SPD verzweifelt gesucht!

Andrea Nahles, die erste Frau an der Spitze der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, ist zurückgetreten und hinterlässt eine ratlose Leere. Noch durchdringender als die Fassungslosigkeit, die beim Abgang von Martin Schulz bereits entstanden war, wirkt dieser luftleere Raum, den Nahles nun hinterlässt. Nahles ist eine talentierte und erfahrene Politikerin, ihr Verlust ist der härteste, den die SPD bislang zu verkraften hatte. Denn sie war eine Hoffnungsträgerin: Als erste Frau, die den Parteivorsitz innehat und im mittleren Alter.

Seit Jahren fragt sich die Republik, mal drängend, mal resigniert, zuletzt beinah kondolierend: Was ist nur los mit dieser Partei, die einst so stolz in den Wahlkampf gezogen war, um nach 16 Jahren Kohl das Land umzugestalten? Wo auf dem Weg hat die SPD uns verloren, uns Wähler*innen von einst und sogar uns Genoss*innen von einst? Nach jeder Wahlschlappe wurden diese Fragen, Suchen und Analysen laut. Beantworten kann jeder nur für sich selbst, wo er oder sie die SPD verloren hat. Aber diese Antworten sind für die SPD überlebensnotwendig. Denn vielleicht führen sie dazu, dass die SPD wiedergefunden werden kann.

Sie war aufmüpfig und entschlossen

Niederrhein 1998. Ich war damals Juso-Bezirksmitglied im Kreis Kleve und 17jährig. Lauschte angestrengt den Worten von Andrea Nahles, der Juso-Bundesvorsitzenden, bei einer der Deligiertenkonferenzen. Wir saßen an schlichten Schulbänken, Andrea dozierte vor unseren Tischen, kämpferisch und im Eifeldialekt, warum wir das Wahlprogramm ablehnen würden. Gemessen an den Granden der Partei wie Müntefering, Rau und Schröder war sie aufmüpfig und entschlossen, ihre Energie war ansteckend. Gemessen an dem, was als cool bei uns Jugendlichen galt, wirkte sie zwar etwas bieder. Aber um Biederkeit und Frisuren ging es damals nicht, sondern um unseren entschlossenen Wahlkampf für mehr Gerechtigkeit.

Und wir kämpften wirklich bis aufs Blut, gegen die JU in der Fußgängerzone, mit Kampa-Slogans wie „Wir wollen nicht, dass man an Ihren Zähnen erkennt, ob Sie arm oder reich sind.“ Polarisierte Botschaften für soziale Gerechtigkeit eben. „Rot-Grün ist der Wechsel“ warben die Grünen damals. Heute unvorstellbar. 1998 fand ein Wahlkampf voller Enthusiasmus, Ideen und Aufbruchstimmung statt – jedenfalls für die aktiven Wahlkämpfer*innen, die wir trotz des Wahlprogramms waren. Ich war stolz auf mein Parteibuch. War von den Gedanken der Arbeiterwohlfahrt und des demokratischen Sozialismus fasziniert, dass Umverteilung zu mehr Chancengerechtigkeit führe. Ich empfand es außerdem als ungerecht, dass die Jungs in meinem Alter zum Wehrdienst eingezogen wurden und ich nur deshalb nicht den Dienst an der Waffe verweigern durfte, weil ich das falsche Genital habe. Soziale Gerechtigkeit hieß für mich selbstverständliche Gleichberechtigung, egal welche Hautfarbe, Geschlecht, Sexualität.

Von der Koalition des Aufbruchs zur Entgrenzung von allem

Was 1998 politisch geschah ist überall nachzulesen: Rot-Grüner Wahlsieg, Freudentaumel, die Koalition des Aufbruchs. Sozialdemokratische Bündnisse herrschten plötzlich über ganz Europa – außer in Frankreich. Und was machen die Sozen? Sie schwören auf die neoliberale Weltbankpolitik, beschließen Dienstleistungsabkommen mit den USA, Bologna wird zum Synonym für eine liberalisierte und modularisierte Bildungspolitik in einer wirtschaftszentrierten EU. Vom Aufbruch zum Umbau des beschworenen verkrusteten Sozialstaats dauerte es knapp sechs Jahre, uns wurde ein gesenkter Spitzensteuersatz sowie die Abschaffung der Vermögenssteuer beschert. Es gibt Analysen, die bestätigen ein goldenes Zeitalter für Vermögende just in der Schröder-Ära – und die Erschaffung eines riesigen Niedriglohnsektors, der seinesgleichen in Europa sucht. Für uns Wähler*innen fällt die Ehe von Schwulen und Lesben und die doppelte Staatsbürgerschaft in der politischen Bilanz plötzlich weniger ins Gewicht, denn die sozialkulturellen Errungenschaften von Rot-Grün wurden durch die Prekarisierung von Arbeitnehmer*innen teuer bezahlt. Der Konservatismus der Kohljahre war zwar passé, aber all die Entgrenzungen, die uns nun zugemutet wurden, erwiesen sich als zu negative Freiheiten.

Mein Parteibuch gab ich schon nach drei Jahren sozialdemokratischer Kanzlerschaft ab, im Jahr 2001. Ich fühlte mich betrogen von Schröder und Fischer und dem Egozentriker Lafontaine. Empörte mich über den allerersten Kriegseinsatz der Bundeswehr ausgerechnet unter Rot-Grün. Spürte, dass die Themen, die mich bewegten, kein Echo in dieser Partei fanden und war inzwischen auch nicht mehr am Niederrhein, wo die SPD angesichts des konservativen Umfelds für mich so etwas wie eine Revolutionsgarde dargestellt hatte, sondern in Berlin, wo linke und feministische Politik nichts mit der SPD zu tun hatten, sondern mit Politgruppen. Das, was heute mit Identitätspolitik bezeichnet wird, fand dort ihren Ursprung. Linkssein und SPD, das waren fortan zwei Welten, die auseinanderdrifteten. Strukturell bemerkbar wurde der Drift mit der Gründung der Wahlalternative WASG, später mündete er in die Linkspartei.

Es war die Zeit, bevor Frauenquoten in Führungsetagen in Erwägung gezogen wurden

Natürlich wählte ich zuerst noch meine alte Partei. Fühlte mich der SPD verbunden, schon aus einer Familientradition heraus. Aber es fiel mir schwerer. Und so machte ich 2005 mein Kreuzchen nach unendlichen Minuten in der Wahlkabine bei den Grünen. Schröder hatte einen Denkzettel verdient für seine neoliberale Pragmatik, und das dachten offenbar viele. Es kam der legendäre Wahlabend 2005, an dem Schröder keine Mehrheit mehr erreichte, obwohl er es selbst nicht glauben wollte. Ich verspürte ein wenig Schadenfreude, dass dieser chauvenistische Mann von einer drögen Frau Merkel abgelöst wurde. Sicher eine Frage der Zeit, bis sie von der eigenen Partei abgesägt wird, unkten die Medien im Subtext.

Es war die Zeit, bevor Frauenquoten in Führungsetagen in Erwägung gezogen wurden und als ein Bundeskanzler ungestraft von „Gedöns“ reden konnte, wenn er von Frauen-und Familienpolitik sprach. Welch fataler Irrtum. Hätten die Sozen damals den Zeitgeist erkannt, hätten sie sich die Mütterrente und das Elterngeld im Jahr 2000 auf die Fahnen geschrieben. Aber sozialdemokratische Politik war Bossengenossenpolitik: Arbeiter und Angestellte wurden immer noch männlich gedacht und Familie blieb unter Rot-Grün Frauensache, trotz anderweitiger Bekenntnisse. Die Aufwertung von Erziehungs- und Hausarbeit wurde entschieden abgelehnt und als Herdprämie verunglimpft – als wäre sie als Beleidigung für Frauen gedacht. In der SPD dürfen Männer offenbar nicht an den Herd, habe ich verstanden, und haderte auch deshalb mit der SPD.

Nahles zeterte und kritisierte wie sonst keine

Andrea Nahles verteidigte die Logik der sozialen Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit, das sollte durch Erwerbsarbeitspolitik hergestellt werden. Aber Frauen profitierten mehrheitlich nicht von diesem Verständnis. Zudem mussten sie sich nun blank machen für Hartz IV, wenn sie alleinerziehend waren. Und verdienten nicht mehr, wenn sie im Niedriglohnsektor schuften mussten, ihre Dienstleistungsarbeit wurde immer weniger wert statt mehr. Es profitierten Unternehmen, Arbeitgeber, Aktionäre und tariflich Beschäftigte. Nahles kritisierte die Agenda 2010, die Schröderpolitik war ihr zuwider. Das war ein Grund, weshalb sie in der SPD so wichtig wurde – sie zeterte und kritisierte wie sonst keine, sie stritt um das, was ihr wichtig erschien: Solidarität mit den kleinen Leuten. Sie bot den Herren in der SPD die Stirn, 1995 positionierte sie sich gegen Scharping, 2005 gegen Schröder und später gegen Müntefering. Alle von ihnen gingen, sie blieb. Aber sie war keine Sympathieträgerin, sie wurde in der Partei als Rumpelstilzchen wahrgenommen.

Die SPD ging in der ersten großen Koalition unter. Müntefering verließ als letzter Altgedienter die Bühne und es folgte das erste von vielen schädlichen Gemetzeln an der Parteispitze. Kurt Beck wurde duch illoyales Verhalten der Genoss*innen 2008 aus dem Amt gejagt. Es zeigten sich die späten Früchte der Enttäuschung aus der Schröder-Zeit: Neben der gereiften CDU wirkte die SPD wie ein Haufen pubertärer Singles auf Partnersuche, und an allen Vorsitzenden, die man kürte, fand man nach einer kurzwährenden Phase auf Wolke 7 etwas auszusetzen, was dann bereitwillig in die Öffentlichkeit getragen wurde – der nächste könnte ja noch besser sein.

2009 dann das Desaster: Nur 23% für die SPD unter Steinmeiers Kandidatur. Meine Stimme war darunter, aus Mitleid, nicht aus Überzeugung. Und wie viele Prozentpunkte wurden wohl aus reinem Mitleid mit der alten Tante SPD gewonnen? Die große Koalition und das SPD-Personal aus Steinmeier, Steinbrück und Ulla Schmidt konnten der SPD ihr Gesicht nicht zurückgeben. Mit den Hartz-Gesetzen hatte sie es verloren, mit ihrem neoliberalen Kurs während der Regierungsjahre jegliches Vertrauen verspielt. Die CDU heimste die Erfolgszahlen ein, die der Apparat der Arbeitsagenturen mit ihren Maßnahmen und Schlupflöchern geschaffen hatte. Die deutsche Wirtschaft brummte dank der EU-Osterweiterung und der Geschäfte mit China – und natürlich dank der SPD-Reformen. Angst vor der Wirtschaftskrise brauchten wir nicht zu hegen, sie wurde präzise verwaltet, und es darbten alle anderen: Griechen, Polen, Italiener. Nur: Die Wähler erkannten das nicht an. In unzähligen Talkshows mühten sich Genoss*innen ab, die Crux zu erklären, warum die Erfolge Merkel zugeschrieben, die Misserfolge an der SPD haften blieben. Teflon-Merkel wurde schon früh zum Namen dieses Phänomens.

Die SPD hatte mit dem Repertoire ihrer mittelalten Männer an der Spitze einen entscheidenden Schwenk zum ernstgemeinten Umbruch verpasst

Die SPD ging fortan in die Opposition und versuchte Wellness. Verkündete munter ihre gutgemeinte Politik, an die niemand mehr glauben wollte. Andrea Nahles saß an Gabriels Seite im Willy-Brand-Haus und rettete, was zu retten war. Aber uns SPD-Sympathisanten war das Personal nicht ganz geheuer. Wo war die muntere Schlitzohrigkeit eines Egon Bahrs, wo ein blitzgescheiter Stratege wie Helmut Schmidt? Statt brillianter Köpfe sammelten sich an der Spitze der SPD karrieristische Machtmänner, so schien es, und die laute Andrea Nahles neben ein paar neuen Frauen wie Manuela Schwesig, die aber noch zu neu war.

Außer Nahles, der Kämpfernatur, die mit ihrer Kandidatur zur Generalsekretärin zuvor den alten Münte aus dem Amt verjagt hatte, gab es keine Frau an der Spitze, die sich durchsetzen konnte oder wollte. Die SPD aber hatte mit dem Repertoire ihrer mittelalten Männer an der Spitze einen entscheidenden Schwenk zu ihrem ernstgemeinten Umbruch verpasst. Wäre die SPD wirklich bereit gewesen, sich zu erneuern, hätten die Genossen bereits damals eine Frau zur Parteichefin gekürt. Aber es gab keine, die Willens war – Hannelore Kraft hätte die notwendige Erfahrung und den Charakter dazu gehabt. Sie wollte nicht. Und Andrea Nahles war viel zu umstritten, als dass sich die Genossen getraut hätten, sie zur Chefin zu küren. Und so blieb es bei der SPD dabei, dass Frauen nur die zweite Reihe besetzten. Es war eine Reihe unglücklichen Nicht-Wollens und Nicht-Könnens, das die SPD-Spitze immer tiefer in die personelle Bredouille brachte.

Der lauteste Ton der Partei, der in den Medien wiedergegeben wurde, war Häme

Und es ging den Wähler*innen spätestens seit der Wirtschaftskrise von 2008 um Coolness und Souveränität. Und die lieferte auf unerklärliche Weise die gelassene Rautenkanzlerin. Die Männer der SPD hatten keine Chance. Auf Steinmeier folgte Steinbrück. Nahles blieb im Willy-Brand-Haus als die Frau an Gabriels Seite. Aber beide schafften es nicht, die SPD-Inhalte zu entstauben und souverän zu verkörpern. Zu nervös wurde jeder Schritt von den Genoss*innen selbst beäugt und kritisiert – erinnern wir uns an die parteiinterne Zerlegung von Steinbrück, weil er in Wirtschaftskreisen ein beliebter Redner war. Der lauteste Ton der Partei, der in den Medien wiedergegeben wurde, war Häme, wenn jemand scheinbar einen Fehler machte. Solidarität, der Begriff von 1998, war schon längst zu einer Worthülse verkommen, und die Medien spielten dankbar ihre Rolle als Steigbügelhalterin der Kanzlerin. Der leichte Zugewinn bei der Bundestagswahl 2013 war auf die Oppositionsrolle der SPD zurückzuführen, aber 25,7% reichten nicht, um das Wellness-Programm als Erfolg zu verstehen.

Ich wählte wieder Grün. Zu augenfällig schien mir die Klimakatastrophe vor der Tür zu stehen, als dass die Zeit für die Subventionierung von Industriearbeitsplätzen vergeudet werden konnte. Die SPD hatte das Thema 2013 noch nicht recht begriffen: Dass Umwelt- und Sozialpolitik dringend in ein Miteinander überführt werden müssen statt gegeneinander ausgespielt, und dass junge Eltern das Umweltthema viel ernster nehmen als die Senioren, die nun das klassische Wähler*innen-Milieu der SPD stellten. Der Spruch der Grünen „Umwelt ist vielleicht nicht alles, aber ohne Umwelt ist alles nichts“ verfängt nun einmal stärker als das abgedroschen klingende Mantra von sozialer Gerechtigkeit, die herzustellen der SPD nicht obliegt – wie auch in einer globalisierten Weltwirttschaft, deren Spielregeln andere schreiben.

Eine starke SPD ist wichtig für unsere Demokratie!

Inzwischen war ich Mutter geworden und mein persönlicher Umbruch spiegelte sich in meiner politischen Präferenz wider. Ich kehrte dem politischen Aktivismus den Rücken und empfand die Verantwortung, die bürgerliche Parteien übernahmen in ihrem Ringen um Kompromisse, mehr denn je als eine Errungenschaft, die es zu unterstützen galt. Ich verstand, warum Kompromisse in der Realpolitik entscheidend waren. Aber ich verstand auch, warum Elterngeld und Mütterrente eine gute Sache waren und die SPD leider reflexartig alles geißelte, was ansatzweise nach CDU aussah. Mit der reflexhaften Abwehr, die taub für jegliche argumentative Logik war, verlor die SPD weiter an Sympathiepunkten. Und natürlich mit der Entscheidung von Andrea Nahles, die abschlagsfreie Rente ab 63 einzuführen. Vermutlich war diese Entscheidung die schwerwiegendste, die Nahles in ihrer Zeit als Bundesministerin traf, denn sie brachte der SPD Bodenverlust bei den jüngeren Wähler*innen ein. Die einen ärgerten sich über die Hartz-IV-Gesetze, und die, die noch zu jung waren, schüttelten jetzt die Köpfe über die Seniorenpolitik der SPD.

Dann gab es den kurzen Überraschungsaufschwung von 2017: Martin Schulz übernahm das Steuer und für einen winzigen Moment herrschte wieder dieser Eindruck von Überlegenheit, von Wir-Können-Das-Besser, von Souveränität und Kraft. Dieser Kampa-Effekt, den die Medien mit Schulz-Zug meinten, hielt genau vier Wochen an. Dann verpuffte er wie eine Seifenblase. Der Tiefpunkt war der Rücktritt von Schulz, nachdem er sich verzockt hatte mit dem Griff zum Außenministerium. Leider. Denn trotz aller Schelte an Fehlentscheidungen und Eiertänzen an der Parteispitze: Nichts wurde nach den Bundestagswahlen 2017 deutlicher, als dass eine starke SPD wichtig ist für unsere Demokratie.

Mit der negativen bis zynischen Haltung der gesamten Politik gegenüber konnte die AfD groß und größer werden

Und heute? Das Lamento der populistischen Parteien von rechts wie links, die sich über die Kompromisse der großen Koalition aufregen, erscheint fadenscheinig. Und noch etwas, das sich in den Zeitgeist einschlich, ist fadenscheinig und bigott: Die Berichterstattung über die große Koalition und über die SPD im besonderen wurde über die Jahre immer abfälliger. Das Schimpfen auf die ausgehandelten Kompromisse wurde mehr und mehr zum Volkssport, demokratisches Ringen um die größtmögliche Berücksichtigung von verschiedenen Interessen geriet in Verruf. Überhaupt ist das Bashing alles „Bürgerlichen“ eine Lieblingsdisziplin von jenen, die sich politisch für links halten – oder rechts. Die bürgerliche Zivilgesellschaft, also der Mut zur Übernahme von Verantwortung, ist aber der Grundpfeiler unserer Demokratie.

Mit der negativen bis zynischen Haltung der gesamten Politik gegenüber konnte die AfD groß und größer werden. Eine schwache SPD bedeutet ja, dass bürgerliche Werte der CDU und den Grünen überlassen und mit dem Label konservativ versehen werden können, weil bürgerliche Werte im SPD-Lager nicht genügend wertgeschätzt werden. Genau diese Überheblichkeit aber ist Gift für die Zivilgesellschaft. Sowohl linke als auch rechte Populisten glauben, dass die demokratischen Kompromisse ihnen etwas vorenthalten würden, auf das sie ein Anrecht hätten. Die extremen Meinungen verkennen, welchen Stellenwert der Meinungsaustausch für das Funktionieren einer Demokratie hat. Sie gaukeln jenen, die sich abgehängt fühlen, ein Kollektiv unter dem Banner des Leids vor, der ihnen aber erst recht eine wirkliche Mitgestaltung vorenthält. Wer einmal in Parteistrukturen gearbeitet hat, weiß, wie mühsam Demokratie sein kann, die langen Sitzungen und das Ringen um Anträge sind zäh, Kompromisse aushandeln ist langwierig.

Mehr Demokratie wagen!

Im Grunde passt der Wahlspruch von Willy Brandt „mehr Demokratie wagen“ auf die Probleme unserer Zeit, und zwar in dem Sinne, dass die Bürger*innen des Landes sich wieder mehr Demokratie zutrauen müssen, sich der Zivilität und der Dialogfähigkeit wieder bemächtigen, anstatt den Populisten ihre Demokratie zu überlassen. Die SPD ist immer noch ein politischer Akteur in allen Regionen, auch wenn sie im Bund geschwächt ist. Die Leitmedien behaupten, die Definition der Volkspartei messe sich an den Wahlergebnissen und nicht an den lokalen Strukturen der Parteien – und die SPD hat das Zeug dazu, von den Jungen Menschen in Kleinstädten und auf dem Land als Anlaufstelle wahrgenommen zu werden.

Aber das geht nur, wenn die SPD sich ihrer zivilen, bürgerlichen Stärke bewusst ist und auch stolz darauf ist. Als Mutter lernte ich, dass Verantwortung zu übernehmen nachhaltiges Handeln voraussetzt. Wenn ich meinem Kind gegenüber nur situationsbezogen agiere, unter Stress oder unüberlegt, dann bekomme ich einen Tag oder einen Monat später die Rechnung präsentiert. Kinder aufziehen und Demokratie bringen ähnliche Strapazen mit sich: die unausweichliche Mühle des Immerwiederkehrenden, die Kompromisse im Alltag, die Quittungen für unüberlegtes Handeln und das Auszahlen von durchgerungenen und gut durchdachten Lösungen. Ich habe verstanden, warum Familie als Hort von Bürgerlichkeit gilt: weil es um Verlässlichkeit geht und um Zuwendung, um das Aushandeln von Bedürfnissen und das Zurückstecken eigener Befindlichkeiten, wenn es sein muss. Alles demokratische Tugenden, die offenbar viele verlernt haben oder nicht mehr für so wichtig erachten. Es wird dringend Zeit, dass die SPD sich das bewusst macht.

Wenn Kevin Kühnert heute davon spricht, dass nie wieder so miteinander umgegangen werden darf, solange man für Solidarität stehen will, dann ist das schonmal ein Anfang. Aber als zukünftige Wieder-Wählerin der SPD erwarte ich, dass sich die SPD mit dem Begriff der Solidarität beherzt auseinandersetzt. Solidarität, so Heinz Bude in seiner Monographie über die „Zukunft einer großen Idee“, ist eine Haltung, die Respekt in einer Welt der Ungleichheit ermöglicht. Und genau dieser Respekt ist es, den wir im Umgang miteinander brauchen. Auf, SPD.

 

 

 

Veröffentlicht von stadtlandfrau

Dr. Inga Haese, Soziologin, Gärtnerin, Leserin, Mutter, Feministin, Kirchenaktivistin. Lebt in Berlin und bei Storkow in Brandenburg.

3 Kommentare zu „SPD verzweifelt gesucht!

  1. Mir ein Rätsel wie man sich von dieser Partei noch was erhofft? Was muss diese Partei eigentlich noch darbieten, bis begriffen wird, dass die ihr eigenes, längst überfälliges Ende nicht mal mehr wahrnehmen? „Wir müssen“, „wir wollen“, „wir haben vor“, „mehr Demokratie wagen“ … na klar doch … und wann? Und wie lange hatte man Zeit dies auch zu tun? Und wie lange durfte der Bürger warten, nur um ein weiteres Mal leer auszugehen?

    Immer wenn’s der Truppe schlecht geht, fällt allen auf einmal auf, dass mit „wir wollen“ & „wir werden“ noch lange nicht was geleistet wird. Diese Partei ist mit ihrer Politik so gut geeignet für das Leben der Menschen in diesem Land etwas zu verbessern, wie ein gelähmter geeignet ist, ein Gehirn mit einer Rohrzange operieren zu können.

    Jahr für Jahr vernimmt man nur noch irgendwelche Eskapaden, irgendeinen Schwachsinn nach dem anderen, welcher sich wieder zusammengezimmert wurde, aber eine Politik zum wohle des Landes, des Volkes, des Bürgers, davon hört man im Grunde gar nichts. Bis nahe den „nächsten“ Wahlen dieser Zirkus von neuem beginnt durch dieses Land zu wandern um für das nächste (immer gleiche) Märchen zu werben &, um es den Menschen zu verkaufen, Verzeihung, ich meinte Unterzujubeln.

    Was nie groß ein Problem darstellte für diese Partei, weiß man bei der SPD doch wie nützlich es sein kann, wenn sich die Partei etwa 3,500 Medienbeteiligungen an diversen Verlagen, Zeitungen, Druckereien usw. usf. in manchen Fällen um die 50 % unterhält! Klar wird eine kleine regionale Zeitung, dann nicht kritischer über die Partei schreiben als sie es müsste, welche mit etlichen Prozenten am Blatt beteiligt ist …

    Diese „Partei“ soll endlich den Schlussstrich ziehen und sich selbst abschaffen. Was will sie denn noch tun? Schulz aus ein weiteres Mal herbeizaubern um ein Problem mit nem andren Problem in Ordnung zu bringen oder was? Diese Partei hat sich von Wirtschaft, Lobbyismus & Hochfinanz derart Flachschleifen und einebnen lassen das nichts Kantiges mehr übrig geblieben ist. Und sowas will dem wohle dieses Landes dienen, ihm nützlich sein?

    „Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll.“ (Georg Christoph Lichtenberg) Und anders bedeutet in jedem Fall ohne SPD. Mit SPD funktionierte schließlich nicht. Bei den anderen Parteien sieht es allerdings nicht viel besser aus.

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    1. Dieser Pessimismus ist aber doch Teil des Problems! Demokratische Willensbildung ist mehr als geil performt. Ich glaube dass die Komplexität der Demokratie mit dem Geist von tl;dr kollidiert.

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      1. Hallo, stadtlandfrau!
        Ich muss mich vielleicht etwas zurücknehmen, ich habe ganz schön ausgeteilt im 1. Kommentar – liegt aber auch daran, dass ich persönlich echt nur noch mit dem Kopf schütteln kann, bei alldem was politisch los ist.

        Und ja! Pessimismus hilft ganz bestimmt nicht weiter. In solch einer Situation zuversichtlich zu sein ist allerdings auch eine Kunst.

        Es muss sich wirklich Grundlegend etwas ändern. Ganz wichtig ist, dass die Spaltung der Gesellschaft – in eine winzige Minderheit der Geldaristokratie, die über die Finanz-Imperien ihre Herrschaft ausübt, und in eine Masse von Habenichtsen, aufhört. Also das dies Überwunden wird. Kritische Soziologen sprechen seid Jahren von einer „Refeudalisierung der
        Gesellschaft“…

        In dem Buch „Das Imperium der Schande“ überschreibt z.B. der Schweizer Soziologe Jean Ziegler (bis 2008 UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung) das letzte Kapitel:

        „Wir erleben eine Refeudalisierung der Welt.“

        Es muss wieder Politik im sinne derer gemacht werden, die wählen gehen! Und die gewählten müssen mal begreifen, dass sie sich dieser Verantwortung zu verpflichten haben! Ein Beispiel:

        Der Bundestag schafft es, über eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze (die scheiße hat die SPD eingerührt) um drei Euro wochenlang zu debattieren, die großen Finanzentscheidungen aber fallen in anderen Gremien. Rettungspakete über zigMilliarden Euro für die Banken wurden in Nacht- und Nebelaktionen von einem exklusiven Zirkel bestehend aus der Kanzlerin, dem Finanzminister, zwei Privatbankern und zwei Staatsbankern beschlossen. (Stand das im Koalitionsvertrag? Nein! Ist also volle Pulle Machtmissbrauch!)

        Das Parlament hat sich entmündigen, sich sein originäres und zentrales Recht, das Budgetrecht weitgehend nehmen lassen. Das ist es auch, was z.B. von der AfD (und auch der „Linken“ [Wagenknecht] immer wieder kritisiert wird mit blick auf die EU.

        Wenn eine Wagenknecht sowas anspricht, ist sie für die linken auf einmal eine Rechts-populistische, und den Rest des Bundestages Interessiert es nicht weiter … und die AfD gilt ja ohnehin als Partei non Grata – obschon es Inhaltlich absolut Korrekte Dinge sind, die angesprochen werden.

        Sowas geht einfach nicht! Wenn sich Banken am Finanzmarkt verzocken, dann müssen sie selbst die Zeche dafür Zahlen! Der Steuerzahler wird beim Zocken der Banken im Globalen Finanzcasino, sollten die Banken Gewinne machen, schließlich auch nicht (für seine steuerliche Zwangshilfe) entschädigt!

        Das ist total Verrückt! Doch hat sich daran seid der letzten Finanzkrise was geändert? Wurde z.B. ein „Trennbankensystem“ eingeführt, dass es normalen Geschäftsbanken verbietet sich an hochriskanten Spekulationen zu beteiligen, damit die kleinen Sparer nicht mit ihren Einlagen dafür Bluten müssen falls sich verzockt wird? NEIN! Es wurde überhaupt nichts unternommen! Gar nichts! Nicht mal, obschon allen absolut Bewusst ist, was passiert, wenn der nächste Hammer (die nächste Krise) kommt. Und die kommt, dass steht jetzt schon fest – weil die Ursachen nicht mal ansatzweise beseitigt wurden.

        Man braucht in der Politik wieder Persönlichkeiten mit richtig dicken Eiern! Es muss so deutlich gesagt werden. Und keine willfährigen Hampelmänner (und Frauen :-/ ) die wie Schießbudenfiguren umfallen sobald es darauf ankommt im sinne deren zu entscheiden die sie (leider Gottes) immer noch wählen.

        Das alles kann doch Motivation genug sein, diese Dinge wieder ins Lot zu bringen. Und ich denke das diese Partei, die das schafft, auch eine Fette Mehrheit hinter sich zu vereinen schafft. Und das ganz von selbst. Dabei wäre mir, der ja sehr konservativ eingestellt ist, sogar egal welche Partei dies durchzieht, sie hätte meine Stimme & auch meine Unterstützung. Eben deshalb, weil es mir, meiner Lebensleistung, meiner Zukunft nutzen würde. Und jedem anderen Menschen dieses Landes ebenso.

        Also, wer ist dieser Mensch, diese Partei, die sich dieser Aufgabe stellt? Freiwillige vor! Es gibt etwas zu tun … 🙂

        Liebe Grüße & ein schönes Pfingsten möchte ich nicht vergessen zu wünschen.

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