Was StadtLandFrau bewegt

„Mein Schwerpunkt ist die Beobachtung und Analyse gesellschaftlichen Wandels. Mein Lebensmittelpunkt ist Berlin-Kreuzberg, wo sich gesellschaftliche Umbrüche radikaler und früher als anderswo zeigen: Hier, im Schmelztiegel aus dem alten SO36, dem Viertel der Arbeiter:innen und Migranten:innen, und der gentrifizierten Berliner Mitte mit modernen Co-Working Spaces, Kreativlaboren und Prinzessinnengärten, zeigen sich manche Konfliktlinien der Gesellschaft schon lange, bevor sie den Rest des Landes erreicht haben. Urbanität ist Umbruch. Von hier aus blicke ich auf meine Themen.

Aber mich interessieren auch andere Umbrüche: Vor vielen Jahren begann ich, anhand einer deindustrialisierten Stadt in Brandenburg den Umbruch von einer postsozialistischen Gesellschaft in eine postdemokratische zu verfolgen, eine Gesellschaft, die einen „doppelten Umbruch“ (Rainer Land) vollzogen hat. Und mit der Digitalisierung ist jetzt noch einer hinzugekommen. Deshalb ist es nicht nur die Stadt, die mich interessiert, sondern genauso der ländliche Raum, wo ich herkomme und wo ich hinpendele. Dort ist jede Veränderung auffällig, da heißt es Raumlabor statt Schmelztiegel. Dort denke ich über meine Themen nach und dort wird der Acker gepflügt.“ (2020)

Wie lebt sie eigentlich im Jahr 2021, die Familie zwischen Stadt und Land?

Wir leben in der Stadt. Und Stadt bedeutet in unserem Fall: Hauptstadt, Innenstadt und ehemaliger Stadtrand – also ständiger Umbruch, Vielfalt, Dichte, Lärm, Kultur. Wir leben mitten drin in der Stadt, immer wieder entsteht Neues um uns herum, es wird konstruiert, verkauft, steht leer, wird umgebaut, neu aufgebaut und wieder umgebaut. Die Straße, in der wir leben, ist eine Augenzeugin bemerkenswerter Geschichte und ihre Ansicht dient immer noch als Kulisse für das Mauer-Panorama am Checkpoint-Charlie. Sie ist unser Anker, die Heimat der Kinder, hier ist es laut, oft dreckig, die Luft im Sommer stickig. Die Prinzessinnengärten, der Stadtgarten um die Ecke, hat gerade seine Tore für den Publikumsverkehr geschlossen, die Spekulationsmaschine dreht sich weiter. Der ALDI ist weg, dafür erweitern sie das „Just Music“ – es entstanden unzählige Eigentumswohnungen in Wohnparks, die sich „Ensembles“ nennen. Aber es gibt viele Kinder und viele Möglichkeiten, einen Platz zum Skaten, Straßenmalen, es gibt Cafés und eine gute Hausgemeinschaft und den Atem der Geschichte von den Augenzeuginnen des Mauerfalls. Das ist die Stadt. Vielfalt, Ursprung des Neuen, eine Tummelei.

Und doch ist da auch die Landsehnsucht, mit Corona stärker denn je; es ist Natur und Ökologie neben Kultur und Ökonomie; es ist Dorf statt Stadt, was Kindern beim Aufwachsen Halt gibt und das Gedeihen von Tomaten, Himbeeren und Kürbissen, das ein Leuchten in unsere Augen zaubert. Als Familie begannen wir ein Wochenend-Land-Projekt, um Stadt und Land im Alltag integrieren zu können. Mit einem Garten in Brandenburg. Wie so viele Städter:innen begehen wir temporäre Landflucht und leben mit all den Vor-, aber auch Nachteilen, die das Pendeln mit sich bringt: Zwei Kühlschränke, die abwechselnd ablaufende Verfallsdaten beherbergen; acht Zahnbürsten, nicht vier; immer volle Wäschekörbe und überall eine gepackte Reisetasche. Am Sonntagabend sind die Straßen verstopft, zu Hunderten stehen wir Stadtflüchtigen dann im Stau am Tempelhofer Damm, um zurück in die städtische Wohnung zu gelangen, zum anderen Kühlschrank, den anderen Pflanzen, den Balkonkästen. Am Samstagvormittag ist es umgekehrt, denn der Samstag ist für das Rasenmähen reserviert, es wird der Acker bestellt, ein Fenster lackiert, geschmirgelt, gepflanzt oder gestrichen. Am Ende des Wochenendes fragen sich die Erwachsenen in der Familie, ob sich der ganze Aufwand eigentlich lohnt, um für eine Stunde am See gewesen zu sein. Aber mit getrocknetem Schweiß auf der Stirn können sie sich zufrieden und müde lächelnd vergewissern, dass es sich gelohnt hat, mal wieder. Die CO2-Bilanz ist mies, all das selbstgezogene Gemüse kann das Bewusstsein über die gefahrenen Kilometer nicht ausschalten, es beruhigt. Und schürt die Gewissheit, dass Leben im 21. Jahrhundert paradox ist und die Ambivalenzen auszuhalten.

Es ist ein gewolltes nicht-Ankommen, eine auf Dauer gestellte Zwischenlösung, die diese Lebensführung mit sich bringt. Sie ist Chaos und Beruhigung zugleich. Denn auf lange Sicht hält ein Städter die Stadt nicht aus und ein Dorfbewohner nicht das Dorf, ohne Schaden zu nehmen – und ob der Schaden, der das Pendeln zwischen den Welten bedeutet, ein hoher Preis für das Nicht-Aushalten-Wollen ist, das vermögen wir noch nicht zu beurteilen.

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