Die Stimme der 40-Jährigen: Anna Hopes Roman „Was wir sind“

Die Autorin Anna Hope zeichnet in ihrem Roman „Was wir sind“, 2020 im Hanser Verlag erschienen, mit klaren Worten und dennoch sehr einfühlsam das Porträt einer Frauengeneration: Die 40-Jährigen und wie sie wurden, was sie sind. Ein Meisterstück englischer Gegenwartsliteratur ist dabei entstanden, das drei Frauen auf ihrer Suche nach dem „richtigen“ Leben porträtiert – zwischen London früher, als es zu Beginn der 2000er Jahre noch im Umbruch begriffen war, und 2018. Rezension auf @StadtLandFrau.

London Fields 2004

London Fields 2004, das ist die Wildheit von Stockrosen, Grillgeruch, Horden von Tanzenden im Park, eine vom Heute aus betrachtet schier unbegreifliche Unbekümmertheit, mit der die damals Endzwanzigjährigen ihr urbanes Leben feiern – hier beginnt der Roman. Die drei Freundinnen, deren Geschichten abwechselnd erzählt werden, könnten unterschiedlicher nicht sein, doch es bindet sie das unsichtbare Band der Achtung voreinander, einer gegenseitigen Verehrung, die aber auch in harsche Missgunst umschlagen kann. Aus Zuneigung wird im Laufe der Geschichte gedankenloser Verrat, Hope ist hier erbarmungslos mit ihren Protagonistinnen und entlarvt die Feministinnen – zwei lernen sich bei einem Referat über das Abjekte bei Kristiva kennen – als heimliche Rivalinnen, die jede für sich mit den eigenenen Entscheidungen hadert und das perfekt erscheinende Leben der Freundin, deren Nachwuchs oder die Berufswahl der anderen ein klitzekleines bisschen neidet. So kommt es im Roman zum unvermeidlichen Showdown, der sich auch aus der Sehnsucht nach dem vermeintlich optimalen Lebenszuschnitt der anderen speist – und eine Eskalationsstufe sprengt die andere. Dabei bleibt jede der drei Frauen auf ihre Weise liebenswert, weil Anna Hope uns die Kosmen ihrer Protagonistinnen, ihre Geschichten und Beweggründe einfühlsam schildert und immer wieder mit Rückblenden und Perspektivwechseln versieht.

Cate. Hannah. Lissa.

Da ist Cate, die wilde, unbezwingbare, aber so Verlorene, die schließlich in die Familiengründung stolpert und nach einem depressiven Zusammenbruch beinahe zufällig doch noch ihr Glück findet. Am Ende liegt es in einer zuvor verhassten Kleinstadt, weit weg vom großstädtischen Flair, und in Cates Mut zur riskanten Ehrlichkeit. Da ist Cates alte Schulfreundin Hannah, die stets Ehrgeizige, fast zu glatt Wirkende in ihrer Liebenswürdigkeit, dabei ist sie kreuzunglücklich wegen ihres Scheiterns im natürlichsten aller Metiers, dem Schwangerwerden. Sie bewohnt den urbanen Traum eines Penthouses in London, ist verheiratet, beruflich erfolgreich, aber innerlich zerbricht sie an ihrem unerfüllten Kinderwunsch. Die dritte im Bunde, Lissa genannt, ist das ewige Szenegirl, eine uninspirierte Schauspielerin auf der Suche nach ihrer wahren Bestimmung, die sich von der Übermacht ihrer feministischen Mutter freistrampeln muss, und dabei stolpert sie – Cate ähnlich, nur fröhlicher – durch Liebschaften und Nebenjobs, immer auf der Suche nach ihrer wahren Berufung, die in einer Doktorarbeit oder ganz woanders liegen könnte. Eine nach der anderen lässt Hope zu Wort kommen, schlicht im Ton, aber dafür spielt sie die komplette Klaviatur zwischenmenschlicher Dramatik.

Die mittleren Jahre in unserer Zeit

Die Freundschaftsbänder der drei verflechten sich während der Jahre, schon allein, weil Hannah einen alten Freund Lissas heiratet. Jedoch nur London Fields 2004 steht für das unbeschwerte, sorglose Zusammenleben der drei Frauen, in einer Zeit, in der das Wort Gentrifizierung erst seinen Siegeszug durch das Vokabular von Großstädter:innen antrat. Was danach kommt ist das Auseinanderdriften durch den zeitgeistigen Zwang zur Einzigartigkeit, das späte Erwachsenwerden und immer wieder der Abgleich von Idealen, Ist-Zuständen und verpassten Gelegenheiten. Erst kommt die Sehnsucht nach Vollkommenheit, dann der Ehebruch. 2008, 2010, 2018. Die Freundschaft zwischen Cate und Hannah besteht, während Lissa geht.

Auch die Orte des Romans wechseln zwischen heruntergekommenen englischen Küstenstädten, Oxford und Teilen Londons, wo sich die Protagonistinnen der Geschichte in ihren biographischen Verstrickungen immer wieder begegnen. Die Inselgestalt Großbritanniens wird oft ins Bewusstsein gerufen; das salzige Meer, Brücken und Wasser, gerade so, als verkörpere die Insel das einsame in-der-Welt-Stehen, das jede der drei Freundinnen im Laufe des Romans durchlebt – eine Geschichte vom Sich-Freischwimmen aus eingefahrenen Beziehungen, von Enttäuschungen und Neuanfängen, vom Vergeben, von entwaffnender Ehrlichkeit und natürlich am Ende von tiefer Freundschaft und Fürsorge. Die drei Frauen sind so gut gezeichnet, dass man sich mit jeder von ihr identifizieren kann, sowohl mit der notorisch erschöpften und wütenden Kleinkindmutter Cate als auch mit der kinderlosen Hannah mit ihrer Sehnsucht und mit der einsamen, sinnsuchenden Lissa. Am Ende, so scheint es fast banal, gehört das Umherirren, das Scheitern und Neuanfangen vielleicht zum Durchschreiten der mittleren Jahre unserer Zeit.

Mit den Protesten von Seattle 1999 endet sinnbildlich der unbedingte Einsatz für den geerbten Raum der Möglichkeiten – das ist jetzt mehr als zwanzig Jahre her

Aber es bliebt die Frage, wo der Einsatz für das Gemeinwohl bleibt bei all dem Zurückgeworfensein auf individuelle Krisen und Einsamkeiten. Wollte man den Roman politisch lesen, dann steht die Sinnsuche der Freundinnen geradezu beispielhaft für ein Europa, in der die 40-Jährigen die Geschicke übernehmen und die Errungenschaften ihrer Eltern nicht mehr als solche erkennen können, weil sie keine Energie mehr haben für das große Ganze. Zu beschäftigt sind sie damit, selbst klar zu kommen mit ihrer Wahl und der Bewertung der vielen Möglichkeiten, die das spätmoderne Leben ihnen bietet, um für den Erhalt dieses Raums der Möglichkeiten weiter kämpfen zu können. Mit den Protesten von Seattle 1999 endet sinnbildlich der unbedingte Einsatz für diesen ererbten Raum – das ist jetzt mehr als zwanzig Jahre her. Seitdem dominiert die Frage nach dem Sich-Arrangieren mit den realen Bedingungen jenseits von Idealvorstellungen die Leben der um die 40-Jährigen.

Für die politischen Errungenschaften steht Lissas Mutter Sarah, Künstlerin, Lehrerin, kämpferische Aktivistin, aber voller Vorwürfe an die Tochter, aus der vorerkämpften Freiheit nicht das Richtige rausgeholt zu haben. Man kann ihr insgeheim Recht geben, bei allem Verständnis, das uns die Autorin für ihre Protagonistinnen abgewinnt: Während alles und jedes bewertet und beurteilt wird, zerfällt eine politische Gemeinschaft als Garant jeglicher Freiheiten vor ihren und unseren Augen – und niemanden, so scheint es, interessierts. Aber die Selbstgefälligkeit von Sarah nervt, denn klar wird auch, dass der Tochter nichts anderes übrig bleibt, als die Mutter zu enttäuschen. Als diese stolz auf ihre Unerschrockenheit im Aktivistinnen-Camp auf einem militärischen Stützpunkt zurückblickt, antwortet Lissa, die damals ein kleines Mädchen war: „Ich hatte Angst. Ich fand es furchtbar, dass du hier warst. Ich dachte, du würdest sterben.“

Auf den Luxus der langwierigen Selbstfindung folgt nun der Klimawandel

So erzählt Hope die Geschichte der drei Freundinnen auch als eine klassisch intergenerationelle, indem sie die Suche nach dem jeweils richtigen Weg als ein Abarbeiten an den Idealen der Eltern erkennen lässt. Sie endet schließlich für Lissa, Hannah und Cate doch noch im individuellen Glück, weil sie sich mit ihren Lebensrealitäten abfinden können, aber für die Kinder der Freundinnen, das macht Hope deutlich, wird es dieses Glück nicht mehr geben können. Denn auf den Luxus der langen Selbstfindung folgt für die eigenen Kinder nun der Klimawandel. Um so entfernter mutet der sorglose Beginn des Romans am Ende an: Wie herrlich selbstvergessen durften die Freundinnen in ihren Zwanzigern sein, und wie lange, lange scheint das her zu sein, heute, in London Fields 2018.

Veröffentlicht von stadtlandfrau

Dr. Inga Haese, Soziologin, Gärtnerin, Leserin, Mutter, Feministin, Kirchenaktivistin. Lebt in Berlin und bei Storkow in Brandenburg.

Ein Kommentar zu “Die Stimme der 40-Jährigen: Anna Hopes Roman „Was wir sind“

  1. Am New Yorker Times Square in der U-Bahn existiert seit ca. 25 Jahren folgendes Gedicht, ohne Autor*in, wie eine Art Graffiti:

    Overslept.
    So tired.
    If late,
    Get fired.
    Why bother?
    Why the pain?
    Just go home.
    Do it again.

    Es sprach mit so aus der Seele, als ich dort gelebt habe. Aber heute muss ich auch ein wenig lächeln, mit dem Gedanken, dass der/die Künstler*in vielleicht doch auch einen gewissen theatralischen Hang hatte.

    Soweit meine Reaktion auf diese ganz wunderbare Rezension.

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