Henri Lefebvre wäre zufrieden mit diesem Ansatz: Trotz Corona fanden sich knapp 50 Anwohner:innen der Oranienstraße am Dienstagabend in der Jens-Nydahl-Grundschule ein, um Ideen für die Umgestaltung ihrer Straße in einer geschlossenen Planungswerkstatt einzubringen. Lefebvre forderte schon 1968 das Recht auf experimentelle Utopie als Motor für die Aneignung von Stadt durch die Bewohnenden. Allerdings wollen Anwohner:innen der Oranienstraße gerne mehr Verkehr statt weniger: Sie haben ganz andere Interessen als die hiesigen Grünen-Politikerinnen.
Der Querschnitt der Bewohner:innenschaft?
Ein Querschnitt der Oranienstraßenbewohner:innen und des Quartiers sei ausgewählt worden, so die Veranstalter von StattBau. Fünf Vertreter:innen des Bezirksamtes und Bürgermeisterin Monika Hermann waren ebenfalls anwesend, um an den Planungsgesprächen in Werkstattatmosphäre teilzunehmen. Irritierend nur, dass keine einzige kopftuchtragende Bewohnerin zu den 50 gehörten, wo gefühlt die Mehrheit der hier Lebenden zu dieser Gruppe zählt. Man habe einen Querschnitt nach Geschlecht und Alter errechnet, informiert ein Planer, und 1500 Anwohner:innen angeschrieben. Nach der Rückmeldung von 100 Leuten seien die Eingeladenen erneut repräsentativ ausgewählt worden, Sie können sich also freuen! Das ist das Abbild Ihres Quartiers! Alle sehen sich erstaunt um: Ein wenig mehr Frauen als Männer, mehr Alte als Junge, und eine überwältigende weiße Mehrheit.
Die Werkstatt-Teilhabe ist so ungelöst wie eh und je
Das lässt zwei Schlüsse zu: Entweder, die Einladung zu einer Planungswerkstatt hat Bewohner:innen mit Migrationshintergründen nicht erreicht, weil die Aufforderung zur Anmeldung die klassische sprachliche Barriere enthielt. Oder aber es leben inzwischen zu 90% weiße Mittelschichtsmenschen in SO36. Was Quatsch ist, das weiß ich aus der Schule meiner Kinder. Lefebvre hatte es natürlich vor 50 Jahren schon geahnt, auch wenn er zeitgemäß-marxistisch von der Arbeiterklasse sprach: Ohne diese sei die Erneuerung des Urbanen nicht denkbar, ein schlüssiges Konzept müsse sie integrieren! Eine Ansprache auf deutscher Sprache als Mittel der Wahl eignet sich vermutlich nicht, um Sprachbarrieren und Vorbehalte vor der Kreuzberger Mittelschicht abzubauen. Die Schulen wissen das: Hier wird zweisprachig eingeladen. Es ist heute auch nicht mehr von Arbeiter:innenklasse die Rede, sondern von Menschen mit Migrationshintergründen. Gemeint ist trotzdem oft die Zugehörigkeit zu einer Gesellschaftsschicht. (Klasse und Ethnizität sind in Deutschland bekanntlich stark verschränkt, nur ohne marxistisches Klassenbewusstsein, aber das ist ein anderes Thema). Jedenfalls stellt sich die Frage der Sprechfähigkeit bei der Werkstattteilnahme so ungelöst heraus wie eh und je.
Die Gräben zwischen uns
Immerhin treffe ich den Fußballtrainer meines Sohnes, der einen türkischen Vornamen hat, er ist Student und Vater, wohnhaft in der Oranienstraße, in Kreuzberg geboren. In meiner Werkstattrunde haben 3 von 9 Diskutierenden keinen süddeutschen, sondern südeuropäischen Migrationshintergrund – mit dieser Quote bin ich zufrieden. Überrascht bin ich dann aber doch von den konträren Sichtweisen, die sich unter uns Quartiersbewohner:innen wie Gräben auftun.
Uns werden 3 Planungsvarianten für die Umgestaltung der Oranienstraße vorgestellt: Variante 1 mit „Mischverkehr“ sieht kaum Veränderungen vor; die zweite Variante sieht die Einrichtung einer Einbahnstraße vor, die dritte sogar „keinen motorisierten Individualverkehr“, sondern eine Anliegerstraße. (Mehr zum Bauvorhaben des Bezirks ab 2023 hier)

Wider die Gentrifizierung: Bloß kein Bullerbü!
Die ZEIT titelte erst gestern: Die Stadt ohne Autos, geht das? Und philosophiert über autofreie Lösungen in Berlin. Erst später am Abend werde ich einsehen, wie die Verkehrswende die soziale Frage und die Wohnungsfrage im Kleinen betreffen. Es solle keine Denkverbote in unserer Werkstattrunde geben, ich plädiere sogleich für eine Sackgassenlösung, mehr Bäume und Begrünung, Verkehr ganz raus unter Einbeziehung der Nebenstraßen! Unser Fußballtrainer ist entsetzt. Er berichtet davon, wie er schon jetzt mit seinem Lastenrad kaum am Cafépublikum auf der O-Straße vorbei in seine Wohnung komme, und wenn es weniger Verkehr gäbe, dann fürchtet er Verhältnisse wie auf dem Alexanderplatz, noch mehr Touristen und noch mehr Gentrifizierung. Dann ziehe er weg, das steht fest. Eine Frau pflichtet ihm bei, der Lärm, der Dreck, die Betrunkenen, immer mehr Kneipen, schon wieder habe ein Café aufgemacht. Wer auf der O-Straße wohnt lebt täglich mit den Zumutungen des touristischen Berlins, es stellt sich heraus: Autolärm ist das geringste Problem. Der Fußballtrainer fordert: Gerne mehr Autos! Hauptsache, es wird nicht noch attraktiver für Kneipentouristen – und Anleger:innen. Bloß kein Bullerbü in der O-Straße.

Das wiederum sehen ich und 3 weitere anders, ich plädiere für eine größer gedachte, autofreie Lösung für die Innenstadt, wo nur Anwohner:innen fahren und parken dürfen, so wie in Barcelona, Amsterdam. Wenn schon die eigenen Interessen vertreten, dann richtig, denke ich erst. Bin dann aber einsichtig und gebe zu, dass mir die Perspektive der betroffenen O-Straßenbewohner:innen bisher unklar war und ich erst jetzt verstehe, wie schwierig die Gemengelage ist. Unser Fußballtrainer ist in der Oranienstraße aufgewachsen – ich auf dem Land.
Ich merke, dass ich mir eine autokritische, grüne Haltung leisten können muss
Ich merke, dass ich mir meine autokritische, grüne Haltung offenbar leisten können muss und sich meine Lebensrealität in der beschaulichen Seitenstraße meilenweit von der Lebenswelt der 20 Meter entfernten Oranienstraße unterscheidet. Vielleicht so weit wie mein Herkunftsstädtchen im Westen von Berlin-Kreuzberg. Ist es Zufall, dass die Seitenstraßenbewohner:innen weiß und mittelalt sind und mindestens zur Mittelschicht gehören, viele geboren in der Provinz? Promovierte, Studienrätinnen, eine Architektin. Ernsthaft: Meine Seitenstraße ist bereits völlig gentrifiziert. Hier leben Museumsdirektoren, Galeristen, Professorinnen. Unsere Interessen sind sogar konträr zu den Interessen der Oranienstraßenbewohner:innen, vermutlich gilt das besonders für jene, die erst gar nicht gekommen sind. Und so wird ihr Appell an eine laute Durchgangsstraße verhallen, fast wie von Monika Hermann bestellt – schade, dass mir das erst spät klar wird. So sind wir Mittelschichtswerkstattteilnehmer:innen eine gute Legitimation für das spätere „ihr durftet doch mitentscheiden“. Die Mehrheit spricht sich für weniger Verkehr aus, Variante 3 wird insgesamt präferiert.
Am Ende treffe ich eine Nachbarin meiner Straße, die übrigens Physikprofessorin ist. Es sei ihre zweite Planungswerkstatt gewesen, erzählt sie, und die erste, die habe sie eigentlich völlig entmutigt: Damals ging es um den Alfred-Döblin-Platz, und das einzige Anliegen der Anwohner:innen war, dass die Radfahrenden am Durchrasen gehindert werden. Mit dem Ergebnis, dass die Radfahrenden weiterhin ungehindert durchrasen.
Wem Aneignung gewährt wird – und wem nicht
Das Recht auf die Aneignung der Stadt nach Lefebvre, es liegt nach wie vor im Auge der Betrachtenden, wem die Aneignung gewährt wird – und wem nicht. Als Radfahrende hat man im grünen Bezirk auf jeden Fall gute Karten. Mal sehen, was aus der Autofreundlichkeit der Oranienstraßenbewohner wird – Ergebnisse der Planungswerkstätten liegen Ende 2021 vor.
PS: Ein Intermezzo Kreuzberger Spezifik gab es gleich zu Beginn der Variantenvorstellung: Ein sehr junger Grünflächenamtsmitarbeiter (mit Migrationshintergründen! Aber erst seit April dabei) kommt ins Stottern und bekommt von seinem sehr viel älteren, erfahrenem Amtskollegen verbale Unterstützung. Doch der Grauschimmel begeht einen kapitalen Fehler: Etwas schnoddrig ergänzt er seinen Beitrag mit „solche Vorbehalte kommen dann von Anwohnern.“ Daraufhin fährt ihm eine Mitdiskutantin, Typ frauenbewegte Künstlerin um die 60, übellaunig in die Amtsparade: „WIR sind doch die Anwohner, jetzt hören Sie sich doch erstmal an, was wir zu sagen haben, oder warum wissen Sie das schon!?“ Abtritt Grauschimmel, er stellt sich wieder mit dem Rücken an das Treppengeländer, wo er herkam, verstummt zutiefst beleidigt für den Rest des Abends. Schade, weil Amtswissen auch nicht uninteressant ist für Planungsfragen. Etwa die Information, dass eine Einbahnstraße erst nach einer Umwidmung der O-Straße in eine Nebenstraße gelangen würde. Ein jahrelanges Planungsprozedere, erfahre ich hinterher, vermutlich Baubeginn 2025.
