Corona-Homeschool, Lockdown#2: Warum sich das neue Jahr so verdammt alt anfühlt

Das neue Jahr ist noch so jung, gerade mal zwei Wochen alt. Und trotzdem fühlt es sich an, als wären seit Sylvester etliche Monate vergangen. Das Blei der Corona-Homeschool hängt wieder an der Familie, es macht jeden Tag zäh wie Kaugummi und die fehlende Aussicht auf eine halbwegs erträgliche Situationsänderung lässt auch Optimisten verstummen.

Das Déjà-vu eines Albtraums

Was denkt ihr euch, Senatspolitiker:innen in Berlin? Und inzwischen auch: Eltern, die Proteste gegen Schulöffnungen anstrengen? Hier werden Lehrer:innen auch noch im neuen Jahr mit einer unausgegorenen Software in den Lockdown geschickt, wieder wurde Zoom nicht als Meetingplattform erlaubt, dafür wurde aber bekannt, dass die HPI-Website durch massive Aufrufe aus dem Ausland gestört wurde. Tatsächlich war auch gestern morgen kein problemloses Einloggen in die Schulcloud möglich. Die Software sei nicht nicht ganz ausgreift, heißt es. Und die Server sind überlastet, mal wieder, Ähnliches geschah im Lockdown 1 mit dem Berliner Lernraum. Überhaupt ist das technisch einwandfreie Abhalten von Cloudmeetings nur das kleinste Problem von Lehrer:innen und Eltern zur Zeit, an erster Stelle ist die Situation für die Schüler:innen zu bedauern. Sie sind es, die in den Wohnungen und ihren Kinderzimmern eingesperrt an ihren Schulkarrieren weiterbasteln sollen. Die Erwartungen in kindliche Bildungserfolge sind hoch, aber sie kollidieren schon wieder mit Freund:innenentzug, fehlender Interaktion und dem Gefühl, auf sich allein gestellt zu sein. Für Erziehungsberechtigte ist das Hin- und Herswitchen zwischen Online-Aufgaben, die per E-Mail kommen, Cloudaufgaben und Arbeitsmaterial in Papierform, das gebracht und abgeholt werden will, ein schier undurchsichtiger Wust an Aufträgen, der zu bewältigen mindestens einen Master in Multitasking erfordert und die ganze Arbeitswoche in Anspruch nimmt. Und wenn die Flut an Aufgaben gesichtet und überblickt ist, dann ist sie logischerweise noch nicht bewältigt! Nein, pubertierenden Söhnen muss die Bedeutsamkeit der anfallenden Aufträge, die zu Hause erledigt werden sollen, plausibel gemacht werden, und nein: Es ist nicht okay, wenn jetzt das 4. Hörspiel läuft und das Smartphone zum Brawlstars-Spielen auf dem Schreibtisch liegt.

Lost oder Losti

Apropos, der ganze E-learning-Hype: Haben sich die Entwickler:innen von Clouds und Apps eigentlich überlegt, wie synchron die Lernvermeidungshaltung mit steigendem Pubertätsgrad zunimmt? Der Erfolg jeder E-Learningstunde mit digitalem Buch hängt eng vom Sitzfleisch des Erziehungsberechtigten ab, den Platz neben dem Bildschirm besetzt zu halten, denn ansonsten vergeudet der gewitzte Nachwuchs seine Energie lieber darauf, herauszufinden, welche Spaßfunktionen der Büro-PC in seiner hintersten Ecke doch noch versteckt hält. Elterliche Bemühungen werden gerne mit dem Seufzer „Du bist so lost“ kommentiert. Leider bzw. alternativlos hat sich die mütterliche Unbeliebtheit bei meinem Sohn ins Maximale gesteigert, als ich seine Digitalzeit radikal auf eine Stunde täglich gekürzt habe (nachdem sie in den Weihnachtsferien unbegreiflicherweise zu einem tagesfüllenden Hobby geworden war), und der Protest bricht sich jetzt durch größtmögliche Verstörung der Erwachsenenseite Bahn: Mein Sohn verkündete, in seinen Kontakten habe er mich jetzt für immer als „Losti“ gespeichert. Mein vergeblicher Einspruch gegen die Demütigung ließ mich heimlich all meine Ambitionen verachten, seine Digitalzeit zu kürzen. Als Mutter habe ich jetzt also verloren, aber als Homeschoollehrerin durfte ich frohlocken – damit ist die Aufgabenflut doch schon so gut wie erledigt!

Dass es natürlich nicht so ist zeigt die Homeschoolpraxis meiner Tochter. Jeden Tag eine Seite in jedem Heft, das klingt so easy! „Das schaffst du locker, Kind. Fang einfach an! Ich arbeite nebenan.“ Das Kind kommt nach einer Stunde aus dem Kinderzimmer und hat das Zimmer umgeräumt, mit Pferden gespielt, was Schönes gemalt und einen Impfstoff im Reagenzglas entwickelt. Toll, denke ich, wie kreativ du deine Zeit nutzt! „Aber Kind“, sage ich, „du solltest doch eine Seite in jedem Heft machen!“ Okay, es sind 4 Hefte. Eigentlich 5. Also gut, ich habe es verstanden, ich muss neben dir sitzen und ansprechbar sein, sonst wird das alles nichts, außerdem: War schonmal jemand von uns heute draußen?

Dann müssen wir sowieso raus, nach der Englisch-Videokonferenz für den Großen und dem Auswärtstermin vom Vater, in die Schule, Blätter abholen. Das Essen heute wird Spaghetti mit Tomatensauce, überlege ich auf dem Weg, vielleicht morgen was Richtiges? Dann lese ich wieder eine Mail auf dem Handy, ach ja! Ich muss eigentlich arbeiten! Bloß wann? Und wo überhaupt? Alle Plätze sind belegt! Mich erreicht die beruhigende Mail des Berliner Senats zur Pandemiesituation. Als ich sie lese bleibt ein irres Lächeln in meinem Gesicht stehen: „Generell gilt: Die Schulpflicht in präsenzunterrichtsfreier Zeit bleibt weiterhin bestehen und wird nicht ausgesetzt. Unterricht findet dann auf Distanz als schulisch angeleitetes Lernen zu Hause (…) statt.“ Na, schönen Dank!

Wut auf fehlende Konzepte

Für einen Moment stelle ich mir vor, ich wäre nicht mit den Ressourcen ausgestattet, über die ich verfüge: Eine Wohnung mit Kinderzimmer, ausreichendes Einkommen, gehobene Bildung. Trotz dieser Ressourcen habe ich eine kurze Lunte in diesen extremen Tagen, bin weniger verständnisvoll und geduldig, abends bin ich fix und fertig. Was wäre denn, wenn mich jetzt noch Existenzängste plagten? Oder wenn niemand im ganzen Haushalt verstünde, was in den Mails aus der Schule steht? In den Heften? Oder auch: Was wäre, wenn mein Mann und ich den ganzen Tag außerhalb arbeiten würden und unsere Kinder sich selbst überlassen wären? Wie viele Kinder leiden gerade unter der Exklusion von Chancen, die sie ohne die Schulschließung wahrnehmen könnten? Der Gedanke daran mildert nicht die Ungerechtigkeit, die tausenden Kindern und Jugendlichen widerfährt, er steigert nur die Wut auf die fehlenden Konzepte, auf die Gedankenlosigkeit, mit der dieser zweite Lockdown begangen wurde und mit dem das „Lernen zu Hause“ allen Ernstes als politisch gewollte Lösung zur Bekämpfung der Pandemie dargestellt wird. Willkommen im Jahr 2021, das schon in Woche 3 verdammt alt aussieht!

Veröffentlicht von stadtlandfrau

Dr. Inga Haese, Soziologin, Gärtnerin, Leserin, Mutter, Feministin, Kirchenaktivistin. Lebt in Berlin und bei Storkow in Brandenburg.

Hinterlasse einen Kommentar