Morgens an den Butzke-Werken. Eine kurze Geschichte über den Zusammenprall urbaner Welten

Die Werkstatt macht um 9:00 Uhr auf. In der Lobeckstraße gibt es sie noch, die Anzeichen der Butzke-Werke, die alte Fabrik und den Autoschrauber, der auch TÜV abnimmt. Nebenan eine Tankstelle. Alles Zeichen einer Zeit, als es leer war um den Moritzplatz, als es noch keine Design-Academy gab, kein Aufbauhaus, kein Just Music. Und auch keine Work-Spaces und Labs in den Hallen der ehemaligen Butzke-Werke. Zuletzt wurde das Gelände von Robben und Wientjes verkauft, nebenan, Ecke Ritterstraße. Auf dem Grundstück liegen die kläglichen Reste, zusammengebrochen auf einem Haufen, die Reste einer Zeit, in der West-Berliner Studenten aus dem Nichts Imperien aufbauen konnten, die heute Millionen einbringen. Vermutlich wird es hier bald nicht mehr so viele Tankstellen geben, es wird ein neuer Hotel- und Einkaufstempel entstehen.

 

„In Istanbul würde ich keine Wohnung wollen, noch nicht mal geschenkt!“

 

Ich warte auf den alten Schlosser, der mein Auto begutachtet. Er kommt, im Blaumann mit reichlich Ölflecken. Berliner Schnauze, verschmitztes Lächeln, Michael-Müller-Gesicht. Ich solle das Auto irgendwo parken, aber bitte nicht in Potsdam: „Viel Glück beim Suchen“. Ein Mann, der mit mir wartet, ist mit seinem VW Touran extra aus dem Wedding hierher gefahren. Auf Empfehlung. Er trägt einen gepflegten, schwarzen Bart, ist etwa Mitte 40. Spricht mit einem türkischen Einschlag. Er hat freundliche, dunkle Augen. Wir ärgern uns gemeinsam über die Verkehrssituation in Berlin, wird jedes Jahr schlimmer, stimmen wir uns zu. Er hat eine Stunde gebraucht aus dem Wedding hierher, obwohl er alle Schleichwege kennt. Ich pflichte ihm bei, brauchte heute für 100 Meter zehn Minuten. Aber ob ich schon einmal in der Türkei war, fragt er. Ich bedaure. Er lacht. Im Vergleich zu Istanbul ist hier alles geordnet. Istanbul findet er schrecklich, diese riesen Stadt, 16 Millionen Einwohner! Einmal stand er ganze 7 Stunden im Stau, weil er die Bosporus-Brücke überqueren wollte, so ein heilloses Chaos herrsche dort. Selbst wenn ihm jemand eine Wohnung dort schenken wollte, er würde sie nicht nehmen, noch nicht einmal ein Haus!

 

Früher sind sie zur Fabrik gegangen und sahen alle gleich aus. Heute gehen sie in die Fabrik und tragen andere Uniformen

 

Er ist jetzt dran mit seinem Touran. Ich warte. Mir fallen die Trägerinnen von Einweg-Kaffeebechern auf, die in regelmäßigen Abständen meinen Warteplatz kreuzen, in Richtung der alten Butzke-Werke. Mir fallen auf: junge Mädchen, dünne, mit Blümchen bedruckte Röcke zu Leggins und hellen Sneakers, wildgemusterte, weite Blusonjacken, dazu gelbe Haarbänder, Sonnenbrillen trotz Oktober, und 70er-Jahre Handtaschen. Kopfhörer, überall Kopfhörer und mittelgroße Bildschirme in den Händen. Auch jungsche Männer in engen Jeans mit androgynen Frisuren. Auch: Junge Männer in unauffälligen Jeans und Pullovern mit stinknormalen Kurzhaarschnitten. Auffällig: Die Jungs kommen eher in Horden, die Mädchen allein. Düsen auf ihren Peugeot-Rädern an mir vorbei mit viel Rouge auf den Wangen. Ich denke: Früher sind sie zur Fabrik gegangen und sahen alle gleich aus. Heute gehen sie in die Fabrik und tragen andere Uniformen, besonders die Frauen drücken ihre Individualität durch auffällige Kleidung aus. Was hat sich eigentlich an ihrem gesellschaftlichen Status geändert? An meinem? Das postpostmoderne Proletariat arbeitet in Fabriklofts: Co-Working-Spaces, Labs oder factories. Kreativ, aber prekär. Boltanski und Chiapello lassen grüßen. Was ist eigentlich, wenn sie älter werden? Familien haben? Krank werden? Solche Menschen sehe ich kaum noch am Moritzplatz um 9 Uhr.

 

Smart und vernetzt, daneben mein dreckiger VW

 

Das kreative Proletariat ist jung und schick, vernetzt, online, smart, mobil, flexibel. Mein Auto, der alte VW, der gerade in die Werkstatt rollt: Das krasse Gegenteil zu ihrer Welt, ein stinkender, öliger Verbrennungsmotor, dreckig und alt, die Werkstatt ein Hort von Schmutz und Benzingestank. Alte Arbeitswelt trifft auf kreatives Proletariat. Und ich sehe: Saubere Arbeit trifft auf schmutzige, ich denke an den Hambacher Forst, welche Arbeit ist eigentlich sauberer? Die am Verbrennungsmotor, der unser Klima ruiniert, oder die am Laptop und Smartphone, vernetzt und mobil, für die all die Braunkohle verbrannt werden muss und Wälder gerodet? So sauber ist sie dann doch nicht, die kreative Arbeit. Es ist kompliziert.

Was ist eigentlich, wenn die jungen Smarten von heute später auch mal eine Werkstatt brauchen, im übertragenen Sinne? Einen Hort? Einen Zufluchtsort? Haben wir dafür eigentlich vorgesorgt? Aber dann fällt mir wieder Istanbul ein. Und ich muss lächeln.

Veröffentlicht von stadtlandfrau

Dr. Inga Haese, Soziologin, Gärtnerin, Leserin, Mutter, Feministin, Kirchenaktivistin. Lebt in Berlin und bei Storkow in Brandenburg.

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