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Tag 9: Das Adrenalin der Provokation

Ein sonniger Tag in Berlin, ich fahre mit dem Rad am Mauerstreifen entlang an allerlei touristischen Hotspots vorbei. Vom Axel-Springer-Verlag bis zum Gleisdreieck Touristenleere an den sonst gut gefüllten Orten: Checkpoint Charlie, DDR-Museum, Topographie des Terrors, Martin-Gropius-Bau, keine reisebusseweise sich schiebenden Massen, Menschentrauben, Busstaus. Von März bis September hatten wir uns an sie gewöhnt im letzten Jahrzehnt, jetzt: wie ein Spuk vorbei. Die Straßen sind so leer wie in den 1990ern, nur ohne dass Brachen brach liegen, und die Fassaden sind poliert statt schmutziggrau.

Nur die Bauarbeiter bauen unbeeindruckt von allen Abstandsgeboten weiter. Der Park am Gleisdreieck beherbergt so viele Hobbysportler:innen wie noch nie an einem gewöhnlichen Vormittag.

Und Social Media meldet neben all den witzigen auch doofe Posts von Menschen, die sich aufregen und aufregen und noch mehr aufregen über politische Entscheidungen. Vielleicht sind sie selbst von der Krise betroffen und können nicht anders als polemisch zu reagieren. „Merkel tötet“ schreibt einer tatsächlich, er regt sich über die „unfähige Regierung“ auf, denn hätte man, dann wäre nicht etc. Ich verstehe Menschen, die jetzt extrem verunsichert sind: Die Lackritzhändlerin, die schon im letzten Jahr nur knapp über die Runden kam; das kleine Bistro nebenan, das keinerlei Rücklagen hat; der Taxifahrer, der vier Kinder ernährt. Eine existenzbedrohende Lage, auch für Lagerarbeiter:innen, Verkäufer:innen und Servierer:innen. Aber was bringt der Onlinehass diesen Menschen? Zumal es meist nicht die Betroffenen selbst sind, die solcherlei Kübel ausschütten.

Aber wer Parolen wie „Merkel tötet“ in die Welt setzt, der säht Hass und kippt gleich badewannenweise Wasser auf die Mühlen der AfD.

Machen Leute das, weil die Aufmerksamkeitsökonomie ihnen recht gibt? Oder weil das Adrenalin der Provokation momentan ein einfaches Mittel der Problembewältigung ist, leichter zumindest als das Aushalten des Nichts-tun-Könnens? Psychologen sprechen von Coping-Strategien in Momenten der Hilflosigkeit, um diese bewältigen zu können. Isolation und Einsamkeit sind solche Momente. Meine Strategie ist dann wohl, zu bloggen. Aber soziale Netzwerke können in einer krisenhaften Situation regelrecht als Aggressionsventil von fehlgeleitetem Frust missbraucht werden, das wissen alle aktiven und ehemaligen Politiker:innen, Renate Künast voran.

So zeigt sich die Corona-Krise als Brennglas und Brandbeschleuniger, nicht nur für E-Commerce, digitale Bezahlung und die Digitalisierung des Lernens, und nicht nur für die Solidarität in Nachbarschaften und zwischen den Generationen, sondern leider auch für hasserfülltes Denken.

„Hoffentlich, hoffentlich werden so viele Menschen wie möglich, am besten alle, vor dem Scheißvirus gerettet. Sehr gerne sterben darf aber endlich das Wettrennen in der Aufmerksamkeitsökonomie, das Bärtekraulen in eilfertigen Talkshows und die unheilige Magie der Medienwarenwirtschaft, per Eilmeldungsgeschwindigkeit schon Millisekunden vor Eintreten eines Ereignisses alles darüber gewusst zu haben“ schreibt Jaspar Nicolaisen sehr treffend über die herrschende mediale Situation.

Stattdessen hilft manchmal auch, Vertrauen in die Regierungsfähigkeit und die Problemlösekompetenz der Handelnden zu haben. Jedenfalls lautet so mein Resümee für heute.

Veröffentlicht von stadtlandfrau

Dr. Inga Haese, Soziologin, Gärtnerin, Leserin, Mutter, Feministin, Kirchenaktivistin. Lebt in Berlin und bei Storkow in Brandenburg.

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