Verstummt und ausgesprochen.

„Warum hast du so lange nicht mehr geschrieben?“ Diese Frage höre ich im Moment öfter, nachdem ich meinen monatlichen Blogpost-Rhythmus zuletzt nicht eingehalten habe. Ja, warum eigentlich bin ich verstummt? Es ist nichts passiert; keine Krankheit, kein Schicksalsschlag oder dergleichen. Es ist schlicht und einfach der Pandemiealltag, der das Verstummen mit sich bringt. Stumm oder vielmehr mundtot ist man, wenn die Stimme erstorben ist, wenn man sich in Schweigen hüllt. Das ist die weibliche, sorgetragende Stimme im Pandemiealltag, sie ist eher still und leise. Und sie bringt weniger Aussprechbares zuwege, sondern praktiziert mögliche Routinen im Unmöglichen: Wenn die Kinder mit ihrem eigenen Geist zurandekommen, dann ist das schon die halbe Miete für eine gelungene Quarantänezeit.

Was war Reproduktionsarbeit nochmal?

Ich brauche also nicht weit zu suchen, um den Grund meines eigenen Verstummens zu erkennen nach erneuten Qurantänezeiten: Es ist die Erschöpfung nach einem unberechenbaren und unmöglichen Jahr, das zu bewältigen für Familien mit Kindern eine Zumutung war, und für Mütter oft den Weg zurück in einen Betreuungsalltag bedeutet hat, dem sie gefühlt längst entflohen waren. Der Begriff der Reproduktionsarbeit ist aus den Feuilletons verschwunden, sofern er dort überhaupt aufgetaucht war, und wird heute niedlich Sorgearbeit genannt: das Kümmern, to care, carework – das klingt nach mehr Anerkennung als es das blutleere Wort „Reproduktion“ verspricht, aber geändert hat sich doch erstaunlich wenig in den letzten 30, 40 Jahren der feministischen Rufe nach mehr Anerkennung von Sorgearbeit. Tatsächlich verniedlicht der Begriff eher die Unerbittlichkeit dieser Arbeit, und er scheint repititive und monotone Tätigkeiten wie Putzen, Waschen und „Reinemachen“ auszuklammern.

Frauen, und: Männer, die es mit diesen Tätigkeiten täglich aufnehmen und dabei Kinder großziehen, emotionale Zuwendung geben, Hausaufgabenhilfe leisten, die zusätzlich zu ihrer Lohnarbeit beschäftigt waren und sind, konnten sich in den letzen Monaten kaum organisieren und auf ihre Situation aufmerksam machen. Das letzte wahrzunehmende politische Lebenszeichen, das Gehör fand, war eine Videokonferenz zwischen Müttern und Angela Merkel, als diese noch Kanzlerin war.

Die Verstummten: Alleinerziehende

Seitdem wird die Situation hingenommen, dass Mütter – oft auch Väter, aber meistens eben, immer noch, Mütter – nicht arbeiten können oder schlechter/weniger arbeiten können als vor der Pandemie, dass sich also die Ausgangsbedingungen für Mütter, sich auf dem Arbeitsmarkt behaupten zu können, verschlechtert haben. Verheerend ist die Lage für Alleinerziehende – und das sind mit 88% vor allem Frauen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2020, die sich auf Daten vor Corona bezog, waren knapp 43% aller Eineltern-Familien von relativer Einkommensarmut betroffen – und das nicht aufgrund von Arbeitslosigkeit, sondern eher wegen Teilzeitarbeit oder Beschäftigung im Niedriglohnsektor. Corona hat das Armutsrisiko für Alleinerziehende also noch weiter verschärft.

Alleinerziehenden gilt an dieser Stelle meine vollumfängliche Solidarität. Auf ihren Schultern liegt nicht nur die Verantwortung des Großziehens einer heranwachsenden Generation, sondern gleichzeitig die Einschränkungen, die der Gesundheitsschutz der älteren Generation zulasten von Kindern und Jugendlichen bedeutet. All die Wochen der verschiedenen Quarantänen, die seit Monaten hingenommen werden (müssen), das erfordert Kraft, Zeit und Ausdauer. Wie soll frau da nicht verstummen? Ich bin nicht alleinerziehend, trotzdem musste ich Projekte notgedrungen absagen. Noch ist es nicht existenzbedrohend. Für andere aber ist es das. Schon deshalb möchte ich heute nicht mehr stumm bleiben, auch für die, denen Kraft und Zeit und Ressourcen fehlen zum Schweigenbrechen und zum Schreiben von der Überforderung, die ihnen zugemutet wird.

Die doppelt Verstummten: Pflegekräfte

Was für einen Großteil weiblicher Beschäftigter wirklich problematisch ist, ist die doppelte Betroffenheit von Corona in den pflegenden Berufen. 80% der Pflegenden sind Frauen, in der Altenpflege sogar 83% (Bundesagentur für Arbeit). Sie sind, wenn sie Kinder haben, durch die Pandemie nicht nur privat mit den Quarantänefolgen belastet, sondern beruflich als erste mit den Belastungen durch Corona konfrontiert. Das gleiche gilt für Erzieher:innen, Lehrer:innen – alles Berufe, die Menschen helfen oder erziehen, „Sorgearbeit“ leisten.

Verstummen und unsichtbar sein – die Parameter von Sorgearbeit seit jeher

Verstummen und unsichtbar sein, das sind die Parameter von Sorgearbeit seit jeher, der Charakter der „unsichtbaren Arbeit“. Die „care-revolution“, das carework-Netzwerk, all das lebt von Akteur:innen, die laut werden, die das Gegenteil von Verstummen, nämlich das Verlautbaren, zu Wege bringen (wie z. B. Gabriele Winker). Die ihre Stimme im Namen derer erheben, auf deren Unhörbarkeit das reibungslose Funktionieren gesellschaftlicher Teilbereiche basiert. Was aber, wenn, wie in dieser Zeit, nicht nur keine Kraft mehr zum Stimmeerheben ist, sondern auch zum Funktionieren nicht mehr ausreicht? Wenn Coronaquarantänen plus Daueralarm am Arbeitsplatz Sorgearbeitende so belasten, dass sie weder Energie zur Interessensäußerung geschweige denn zum Funktionieren haben? Dann laufen auch die Teilsysteme nicht mehr rund, dann löst die Überlastung Dominoeffekte aus, die zu Stillständen und Innovationsblockaden führt, weil die Schule nicht mehr verlässlich betreut, Krankenhäuser nicht mehr verlässlich Patienten aufnehmen, Pflegeheime nicht mehr pflegen usw. usf.

Die Ver-stummtesten von allen sind Kinder

Und neben dem Nichtfunktionieren-können der einen ist bei den anderen die Kinderbetreuung der Grund, zu verstummen – Kinder, die jeweils eine Woche und mehr in Wohnungen verbringen sollen, konsequent in Innenräumen, im November, Dezember, Januar, Februar. Und die Folgen, die es für Kinderkörper und Kinderwahrnehmungen hat, wenn sie sich eingesperrt fühlen; dem Draußen, der Natur, der Bewegung entfremdet.

Meine kleine Tochter hatte im Oktober 21 ihre stabile Verfassung zurück erlangt. Da konnte sie wieder lernen, lachen, singen. Das Gefühl des Eingesperrtseins, die fehlende Verlässlichkeit von Verabredungen: all das hatte ihren emotionalen Haushalt im großen Lockdown aus dem Gleichgewicht geworfen (hier Corona-Blog). Die ganze Familie litt mit ihr. Unser Fokus war Durchkommen, auf Kosten von schulischem Lernen. Tausende solcher Kinderschicksale wurden beobachtet, der Pandemiealltag hat viele depressive oder verängstigte oder anders psychisch leidende Kinder zurückgelassen, die unter normalen Umständen „normal“ herangewachsen wären und normale Bildungserfolge erzielen würden. Wir fangen unsere Tochter auf; sie kann nachholen, was sie verpasst hat. Aber was ist mit so vielen, die nie nachholen werden was sie eingeholt hat? Deshalb: Aussprechen, oder besser noch ausbuchstabieren, was Pandemiealltag heißt – man kann es gar nicht oft genug tun. Für die, die durch ihre reproduktive Arbeit verstummt sind und für die, die gesundheitlich gelitten haben und ihre Stimme nicht mehr erheben können und natürlich für die Kinder und Eltern, die schon wieder im Lockdown sitzen, obwohl es niemand mehr ausspricht; sie alle sind immer noch stumme Helden der Pandemie.

Veröffentlicht von stadtlandfrau

Dr. Inga Haese, Freie Autorin, Sozialforscherin, Dozentin. Mutter von 2 Kindern. Lebt in Berlin und bei Storkow in Brandenburg.

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