Schwimmen gehen. Eine Kulturtechnik unter der Bürde von Corona

Vom Schwimmengehen: 2015 war das Schwimmbad ein Integrationshelfer, jetzt steht es vor neuen Herausforderungen: Meine Tochter lernt in Zeiten von Corona, was Schwimmunterricht heißt.

Gewisse Konstanten ziehen sich von der Kindheit an durchs Leben, bei mir ist das die Ansicht von Schwimmbädern beim Rückenkraulen. Als Kind trainierte ich mehrmals in der Woche, als Jugendliche und später schwamm ich immer noch regelmäßig, und viele Muster aus Deckengerüsten, Deckenplatten und Schwimmbadbeleuchtungen sind an mir im Rückenkraul vorübergezogen oder vielmehr ich an ihnen, hin zurück, hin zurück. Bahnenziehen sagen Schwimmer:innen dazu. Schwimmen ist meine Sportart, könnte man so sagen, aber wenn ich schwimmen gehe, fällt mir jedes Mal auf, dass schwimmen so viel mehr ist als Sport.

Integration durch Schwimmen

Schwimmen ist eine zentrale Kulturtechnik. Jede:r kann schwimmen lernen (oder zumindest Ansätze davon). Die Bewegungen zu beherrschen, die einen über Wasser halten, ist überlebensnotwendig und evolutionär das erste und wichtigste, das Menschen lernen können. Aber nicht nur deshalb sind öffentliche Bäder und ihre Zugänglichkeit für die Allgemeinheit so wichtig. Schwimmbäder sind Orte der sozialen Interaktion. In Berlin-Kreuzberg, einem von Migrant:innen geprägtem Bezirk, tragen die Schwimmbäder einen großen Anteil zur Integration von Menschen aller Kulturen bei. Denn wer im Schwimmbad Bahnen zieht, der weiß, wie wichtig die stummen Absprachen und das gegenseitige Respektieren des individuellen Schwimmstils der anderen ist: Schwimmer:innen schwimmen vorausschauend, sie rechnen das Tempo der Entgegenkommenden oder des Vorwegschwimmenden mit ein in ihre eigenen Schwimmbewegungen. Im Schwimmbad funktioniert (zumindest beinah immer) eine unausgesprochene Rücksichtnahme, die dazu führt, das die vielen Individualsportler:innen ihren Sport oder ihre Bewegungen ausüben können, ohne dass viele Worte nötig wären. Und wenn, dann geht es meist höflich zu: Der fremde Mit-Bahnbenutzer fragt, ob man lieber vorschwimmen will, eine andere, ob sie vorausschwimmen dürfe.

Schwimmen lernen heißt Toleranz üben

Im Schwimmbad treffen alle Schichten, Altersgruppen, Geschlechter und ethnischen Herkünfte aufeinander, und man teilt für eine bestimmte Zeitspanne diesen einzigartigen, wassergefüllten Raum miteinander – was nur geht, weil jeder von vornherein weiß, unter welchen Bedingungen er oder sie sich in diesem Raum wohlfühlt. Wie integrierend dieser Raum ist, das zeigte sich nach 2015, als viele Geflüchtete in Berlin ankamen. Muslimische Jungs aus Willkommensklassen mussten erst lernen, dass es nicht „haram“ ist, mit Mädchen ein Wasserbecken zu teilen. Dass es okay ist, wenn alle gleichzeitig schwimmen gehen. Junge Männer mussten lernen, dass es keine Anmache ist, wenn Frauen in Bikinis das Bad betreten, sondern dass sie das Wasser genießen wollen. Plakate mit Baderegeln erschienen: Es waren nicht jene Baderegeln, die mein Sohn für sein Bronzeabzeichen lernen musste, sondern ein besonderer Regelkatalog für Männer, was in Schwimmbädern zu den Gepflogenheiten gehört – und wie Frauen in Bikinis zu achten sind. Es tauchte aber auch eine neue Vielzahl von Frauen in Burkinis auf – das sind zweiteilige Ganzkörperanzüge für Frauen mit integriertem Hijab – damit sie beim Schwimmen möglichst keine nackte Haut zeigen müssen. Toleranz ist beim Schwimmen also auf allen Seiten gefragt. Die Kultur des Schwimmengehens, das zeigte sich in den letzten Jahren, ist eines der ganz großen Fenster, um die Kulturpraktiken einer Gesellschaft studieren zu können.

Schwimmen in Zeiten von Corona-Regeln

Schon allein deshalb ist es tragisch, dass die Corona-Regeln das Schwimmengehen in den letzten Montaten erschwert haben. Ins Freibad kam nur, wer sich Tage vorher einen Timeslot gebucht hatte. Gestern eröffneten die Hallenbäder mit massiven Corona-Regeln: Meine Tochter ist Drittklässlerin und hatte ihren ersten Schwimmtag im Spreewaldbald. Die Regeln, die ihr und den Begleiter:innen abverlangt werden, sind immens und eine absolute Herausforderung.

Die Kinder müssen sich ein Handtuch vor Mund und Nase drücken

Die Kinder müssen ein kleines Handtuch dabei haben, das sie sich vor das Gesicht halten, bis sie ins Wasser steigen. Dort wiederum ist Abstand geboten. Der Hammer kommt aber beim Verlassen des Bades: Um eine Vermischung mit anderen Gruppen von Badnutzer:innen zu vermeiden, dürfen die kleines-Handuch-vor-Mund-Nase-haltenden Kinder nicht duschen gehen. Nach dem Schwimmen! Vermutlich steigt bald die Zahl von Chlorallergien bei Drittklässler:innen, wenn diese den Rest ihres Schultages mit dem chemisch durchsetzten Wasser auf Haut und Haar verbringen dürfen. Aber das ist ist noch nicht alles: Nach Verlassen der Umkleidekabine dürfen die Kinder ihre Haare nicht fönen. Aus Infektionsschutzgründen müssen sie schnellstmöglich die Zugänge zum Schwimmbad verlassen.

60% eines Jahrgangs bleiben Nichtschwimmervor Corona

Sicherlich haben sich schlaue Menschen diese Regeln ausgedacht und ich bin heilfroh, dass die Drittklässler:innen in diesem Schuljahr überhaupt schwimmen lernen können. Ein Lob gilt den Lehrer:innen, die sich auf das Durchsetzen der Corona-Vorschriften einlassen. Denn schon 2017 schlug die DLRG Alarm, es gab Berichte über den steigenden Anteil von Nichtschwimmer:innen: 60% aller Kinder lernten in Deutschland nicht mehr richtig schwimmen. Der Corona-Jahrgang aus dem letzten Schuljahr lerne überhaupt nicht mehr, wie es geht. Das ist eine Hiobsbotschaft, wenn man das Schwimmen nicht nur als überlebensnotwendig, sondern als toleranzfördernde Kulturtechnik versteht.

Doch die Bürden, unter Corona schwimmen zu lernen, sind immens. Spätestens, wenn im Oktober die Husten- und Schnupfensaison beginnt und tropfnasse Neunjährige vor der Schwimmhalle stehen, hat es sich ausgeschwommen. Noch ein Gedanke drängt sich mir auf, nämlich, dass die aktuelle Schwimmkultur, die sich den Kindern nun einprägt, ganz und gar seltsam auf sie wirken muss. Den Begriff „Vermischen vermeiden“ jedenfalls kennen sie schon viel zu gut, als es uns lieb sein könnte.

Heute geschlossen: Das Spreewaldbad in Kreuzberg

Veröffentlicht von stadtlandfrau

Dr. Inga Haese, Freie Autorin, Sozialforscherin, Dozentin. Mutter von 2 Kindern. Lebt in Berlin und bei Storkow in Brandenburg.

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