„Aus dem Gröbsten raus“: Aktuelle Zahlen zum Elterngeld verdeutlichen, wie sehr Care-Arbeit an Müttern hängt

Wer hat ihn nicht schon selbst ausgesprochen, an andere gerichtet, oder war Adressat:in dieses Satzes: „Die Kinder sind jetzt aus dem Gröbsten raus.“ Es ist ein geflügeltes Wort oder eine Redensart, die einen Konsens darüber voraussetzt, wann die Kinder ein pflegeleichtes Alter erreicht haben und Eltern entsprechend mehr Freiräume haben müssten. Aber schon beim näheren Hinsehen erweist sich dieses „Gröbste“ als eine umgangssprachliche Verschleierung von gewaltigen Aufgaben und als kleine Schwester von der Redensart der 50er Jahre: „Das bisschen Haushalt“. Aktuelle Zahlen etwa vom BIB über das Elterngeld geben diesem Eindruck recht.

Als die Redewendung das erste Mal an mich gerichtet war, dass meine Kinder doch aus dem Gröbsten raus seien, da waren die gemeinten Kinder vermutlich 3 und 6 Jahre alt, und ich nickte höflich, denn sicherlich hatte die so Sprechende recht: Meine Kinder konnten sich selbst anziehen, auf die Toilette gehen, essen. Es gab keine Entschuldigung mehr, warum sich die (Un-)Vereinbarkeit von Beruf und Familie so kompliziert anfühlte, denn das „Gröbste“ sollte geschafft sein: Das jedenfalls suggeriert der vielleicht aufmunternd gemeinte Satz vom „Raussein aus dem Gröbsten“. Gibt man das geflügelte Wort in die Suchmaschine ein, so ist erstaunlich, was manche über das Erkennen, wann Kinder aus dem „Gröbsten raus“ sein sollten, alles zu erzählen wissen. Da ist vom Gröbsten bis zum ersten Lebensjahr, vom Sprechenkönnen oder von den „9 Anzeichen“, dass Kinder aus dem Gröbsten raus seien, alles zu lesen – aber auch von der Ahnung, dass „aus ‚dem Gröbsten raus sein‘ vielleicht gar nie eintrifft“ (Katharina Rutz).

Kinderhaben ist die Bewältigung eines Zustandes des permanenten Umbruchs

Wann also ist der Zeitpunkt für dieses Gröbste? Eine aktuelle (vorab in der SZ veröffentlichten) Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung hat den Bezug des vor 15 Jahren eingeführten Elterngeldes untersucht und kommt zu dem Schluss, dass sich erstaunlich wenig getan hat für die Rückenfreiheit der Mütter am Arbeitsmarkt. Zwar nehmen nun 43% der Väter Elternzeit, aber davon gehen Dreiviertel der Väter für die so genannten Vätermonate in Elternzeit – das sind 2 Monate. Entscheidend für die Care-Arbeitsteilung in der Familie sind diese Vätermonate offenbar nicht: „Über die ersten Lebensmonate des Kindes hinaus sind seit Einführung des Elterngeldes kaum weitere Fortschritte bei der Aufteilung der Familienarbeit zu erkennen“, schließt das BIB. Das Elterngeld endet nach 12 bzw. 14 Monaten. „Aus dem Gröbsten raussein“ wird politisch offenbar mit den ersten Lebensmonaten von Kindern gleichgesetzt, der intensivsten ersten Zeit für Eltern. Es ist die Zeit der krassesten Umstellung, größtmöglicher Nähe, schlafloser Nächte, grandiosen Wachstums. Und es ist der transistorische Übergang in eine Zeit der permanenten Entwicklung, die für die nächsten rund 20 Jahre den Alltag der Familie prägen wird: Kinderhaben ist die Bewältigung eines Zustandes des permanenten Umbruchs, der gleichzeitig das Etablieren von Routinen und Regeln erfordert. Ein Zustand, der nach diesen Zahlen in überwältigender Mehrheit von Müttern organisiert wird.

Nach ökonomischen Überlegungen scheinen Kinder erstaunlich wenig Zeit und emotionale Ressourcen von ihren Eltern abzuverlangen, wenn sie das Grundschulalter erreichen

In wissenschaftlichen Studien zur Frauenerwerbstätigkeit bekommt man ebenfalls einen Eindruck davon, was ökonomisch betrachtet das „Gröbste“ ist. Gemessen wird es an den Möglichkeiten zur Kleinkind-Betreuung: Auch hier ist die Zeit der betreuungsintensiven, frühkindlichen Phase gemeint. Wenn Jutta Allmendinger, die Prädidentin des WZB, etwa twittert, dass Betreuungsplätze zur frühkindlichen Betreuung fehlten und dies ein Grund sei, warum Frauen nicht im geforderten Maß am (effizienz-, wachstums- und wettbewerbsorientierten) Arbeitsmarkt teilnähmen, dann ist das offenbar die gesellschaftlich definierte Marke in der Überschreitung des „Gröbsten“ – dem Kleinkindalter. Nach diesen ökonomischen Überlegungen scheinen Kinder erstaunlich wenig Zeit und emotionale Ressourcen von ihren Eltern abzuverlangen, wenn sie das Grundschulalter erreichen – was sich umgekehrt proportional zur Realität von Familien verhält. Verstehenen wir das „Gröbste“ nämlich als herausfordernde und anspruchsvolle Zeit, dann kommt diese erst, wenn die Kita-Zeit vorbei ist. (Wer seine Kinder in Berlin großzieht, weiß, wovon ich rede – für andere: Hier fehlen über Tausend Lehrer:innen und die Angestellen streiken gefühlt jede zweite Woche). Vermutlich ist der Mental Load für Eltern in allen Bundesländern gleich hoch, die Termine des Schulalltags und die (positive!) Entwicklung der Kinder im Blick zu behalten. Elternschaft in diesem Alter der Kinder ist anspruchsvoller als zuvor, es sei denn, (nach-)mittags stehen hilfsbereite Großeltern oder Nannys parat.

Es ist die klassische Abwälzung gesellschaftlich nicht gelöster Probleme auf die Einzelnen

Beim näheren Hinsehen erweist sich die Redewendung vom Gröbsten tatsächlich als die kleine Schwester des Spruchs aus den 1950er Jahren von „dem bisschen Haushalt“. Denn aus dem Gröbsten raus zu sein bedeutet nichts anderes, als dass Mutter oder Vater selbst schuld daran sind, wenn die Kinder einem mit 6 oder 9 nicht das Gefühl vermitteln, aus „dem Gröbsten“ raus zu sein, obwohl sie es gesellschaftlich betrachtet sein sollten. Eltern haben offenbar etwas falsch gemacht, sie tragen eine individuelle Schuld an ihrem Gefühl, der Norm nicht zu entsprechen: Etwa, wenn Mütter es nicht schaffen, nach einer Pause erfolgreich Berufsprestige anzusammeln (wie in der BIB-Studie nachgewiesen) oder wenn die Kinder oft krank werden und viel Fürsorge brauchen. Es ist die klassische Abwälzung gesellschaftlich nicht gelöster Problemen auf die Einzelnen. Ergo: besonders auf die Einzelne, weil sich immer noch überwiegend Mütter in der Rolle der Sorgeverantwortlichen wiederfinden, wie die BIB-Studie nahelegt.

Zeit, Fürsorglichkeit, Muße, Liebe, Augenmaß, Kooperationsbereitschaft – im Grunde führt der Ausdruck des „Gröbsten“ uns alle auf einen Irrweg

Das Phänomen der Individualisierung gesellschaftlicher Probleme war besonders gut in der Pandemie zu beobachten: In der Form, in der Eltern mit ihren Kindern allein gelassen wurden, hat sich das Ausmaß gezeigt, mit dem die Gesellschaft annimmt, Kinder in Deutschland seien „aus dem Gröbsten raus“. Tatsächlich zeigt sich im Familienalltag, dass die eigentliche Herausforderung für Eltern mit der Pubertät des Nachwuchses einsetzt: Die Launen auszuhalten und Energie für sinnvolle Familienaktivitäten aufzubringen, die pubertierende 13-Jährige einschließen; immer ein offenes Ohr haben für die Sorgen der Heranwachsenden, die etwa über den Krieg in der Ukraine von Youtubern unterrichtet werden. Kurz: Die Heranwachsenden als Erwachsene von morgen wirklich ernst zu nehmen und zu unterstützen. All das erfordert Zeit, Fürsorglichkeit, Muße, Liebe, Augenmaß, Kooperationsbereitschaft – im Grunde führt der Ausdruck des „Gröbsten“ uns alle schlicht auf einen völligen Irrweg.

Veröffentlicht von stadtlandfrau

Dr. Inga Haese, Soziologin, Gärtnerin, Leserin, Mutter, Feministin, Kirchenaktivistin. Lebt in Berlin und bei Storkow in Brandenburg.

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