Was ist StadtLandFrau

Jahrhundertelang beschrieb die Spaltung zwischen Stadt und Land unser Leben. Ausgerechnet im Zeitalter größtmöglicher Urbanität wird diese Spaltung obsolet. Dank der Digitalisierung wird die Spaltung in Stadt und Land auf eine Lebensstilentscheidung reduziert, sie ist keine Überlebensfrage mehr. Zumindest für die Weißen unter uns. Für People of Colour stellt sich die Überlebensfrage mehr denn je. Für deren Wir sind Städte sichere Räume, das Land ist potenzielle Gefahrenzone.

Die Vorzüge des Urbanen hineintragen in die dörflichen Nischen

Umso deutlicher treffen andere heute ihre Lebensstilentscheidung. Sie ist zu einer Gegenbewegung geworden. Das Motto: Macht das Land zu einem lebenswerten Ort. Es ist eine Entscheidung für das Land, für das temporäre Land oder für die StadtLandMischung, und die Akteur*innen verändern damit das Land, die Leute, das Leben auf dem Land. Es gibt immer mehr Ideen an der Peripherie, um die Vorzüge des Urbanen hinein zu tragen in die dörflichen Nischen, nämlich Offenheit, Vielfalt, Kreativität. Und umgekehrt gibt es nachbarschaftliche Zusammenschlüsse in Städten, die die Anonymität der Großstadt hinter sich lassen: Das ist schon beinah die Bullerbüisierung von Kreuzberg in den Milieus der Kreativen, oft Gebildeten, die über sich hinausweisen und im besten Fall ins türkischsprachige Milieu hineinreichen, ein urbanes Wir für alle eröffnen. Die Kiezbewegung für Frau Tunç – eine Späti-Betreiberin in der Oranienstraße – war so ein Erlebnis: Ein spontaner Zusammenschluss von Gentrifizierungsgegner*innen, Nachbar*innen und Aktivist*innen unter dem Motto „BIZIM Kiez“ hält die Nachbarschaft nun schon seit einigen Jahren in Atem. BIZIM Kiez ist eine städtische Bewegung geworden, die einen beispiellosen Integrationscharakter hat. Kollektivierung durch Gentrifizierung?

Denn die digital winner sind oft Frauen. Und auch die urban actors sind oft Frauen. Was noch aussteht, ist der Mehrwert, der sich für Frauen daraus ergibt.

Natürlich gibt es die Verschärfung sozialer Ungleichheit in Berlin und die Polarisierung zwischen Städten. Paul Collier etwa stellt die geographische Spaltung in boomende Metropolen auf der einen und niedergehende Städte auf der anderen Seite fest, aber er bedenkt die eigensinnigen Praktiken der Jugend nicht, die mit ihren digitalen Möglichkeiten die Agglomerationseffekte der Großstadt aushebeln können. Die Entgrenzung von Stadt und Land wird durch die Digitalisierung tatsächlich möglich – und damit eröffnet sie die Chance zur Überwindung ihrer Spaltung.

Und es ist unsere Chance, die Chance der Frauen, diese Welt anders zu gestalten. Denn die digitalen winner sind oft Frauen, was die Praxis und Nutzung digitaler Formate betrifft. Und auch die urbanen und die kommunalen actors sind oft Frauen. Was noch aussteht, ist die (monetäre/ gesellschaftliche/ …) Anerkennung, die sich für Frauen daraus ergeben könnte. Im Rentennieveau wird sich die weibliche Umtriebigkeit wohl auch in 30 Jahren noch nicht widerspiegeln, denn die Arbeitsverhältnisse sind prekär, das Engagement der Frauen oft unbezahlt und digitales Unternehmer*innentum ist harte, schlecht bezahlte Arbeit – singulär erfolgreiche Youtuberinnen und Influencerinnen einmal ausgenommen.

Dabei ändert sich an der Realität der Sorgearbeit und ihrer Ambivalenz für Frauen rein gar nichts, seit 100 Jahren nicht, und alle lächeln brav darüber hinweg

Und dann ist da noch die unbezahlte Sorgearbeit. Sie wird durch die Digitalisierung noch lange nicht aufgewertet, im Gegenteil: Sie verschwindet noch undeutlicher im schweigenden Verrichten, wird stumm an osteuropäische Putzfrauen deligiert, und sie ist digital noch leichter outzusourcen. Sie ist noch weniger im Fokus der öffentlichen Debatte als in den 1980er und 1990er Jahren, weil sich alle Welt der Vereinbarkeitsdebatte verschrieben hat. Dabei ändert sich an der Realität der Sorgearbeit und ihrer Ambivalenz für Frauen rein gar nichts, seit 100 Jahren nicht, und alle lächeln brav darüber hinweg. Oder tun so, als ginge sie das nichts an, weil es politisch verpönt ist, für die Worte Mutterschaft, Sorge, Kinder Anerkennung einzufordern. Dann rennen alle schreiend weg, denn es klingt nach CSU. Erfüllen wir lieber schweigend eine offiziell als veraltet gebrandmarkte Mutterrolle?

StadtLandFrau beschreibt die Ambivalenzen der Spätmodernde

StadtLandFrau bezieht sich auf ein Buch, das Kerstin Dörhöfer vor vielen Jahren herausgab, über soziologische Perspektiven und feministische Planungsansätze. StadtLandFrau ist die Perspektive auf die Verschränkungen, die sich zwischen den Spannungen des urbanen Lebensstils mit Mutterschaft und Landleben, Herkunft und den städtischen Veränderungsprozessen ergeben. StadtLandFrau ist die Betrachtung der Ambivalenzen, die sich daraus ergeben. StadtLandFrau ist der Versuch, die Spannung aus den Verbindungen produktiv zu machen, die sich ergeben, wenn Frau als Mutter unter die Stadträder, in den Sog der Landluft und wieder hinaus gerät. StadtLandFrau möchte die Ambivalenzen der Spätmoderne sichtbar machen.

StadtLandFrau ist eine Perspektive

In der Stadt gibt es Verbaute Räume (Ulla Terlinden), es gibt die Begegnung mit der Sphinx (Elisabeth Wilson), das Chaos, die Freuden, die Armut, es gibt Gewalt, Kultur, Luxus, Verkehr. Es gibt die Architektur der Macht, die Architektur der Kühnheit und Erhabenheit, es gibt Räume für Freiheit und Entfaltung und es gibt den Drang des Marktes, sich alles einzuverleiben und zu zerstören, Neues zu schaffen und Altes zu verdrängen. Stadt und Land ähneln sich plötzlich mit ihrem Attraktionsangebot, denn die Räume zur freien Entfaltung tun sich in Brandenburg genauso auf wie in Mecklenburg und fast mehr als in Berlin. Der Sättigungsgrad an ertäglicher Urbanität, sofern das überhaupt eine Größe sein kann, ist noch nicht erreicht, und doch zieht es so viele, die mehr erwartet haben, raus raus raus aus Berlin. Und immer schwingen die utopischen Fragen mit nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, nach dem Wunsch, Kinder haben zu können und Selbstverwirklichung, NaturRuhe und InputBeschäftigung, Kontemplation und Flaneurie, Wald und Kunst, Himmel und Text. Der Gegensatz zwischen Naturraum und Stadtraum, gebautem Raum, vom Menschen erzeugter Raum ist der immerwährende Gegensatz zwischen von Gott geschaffenem Raum und Babylon.

StadtLandFrau hat tausend Fragen dazu.

StadtLandFrau beschäftigt sich mit Leben im Umbruch im Allgemeinen und im Besonderen:

  • Feministische Perspektive auf Stadt und Land
  • SorgeArbeit // Vereinbarkeitslogiken
  • Familien- und Sozialpolitik
  • Berlin // Architektur
  • NaturRäume
  • Soziale Bewegungen

(in progress, veröffentlicht 2020)

Care-Workshop 2022

Als ich das Konzept des November-Workshops an der Universität Kassel entwickelte, stellte ich fest, dass es ziemlich das ist, was StadtLandFrau umtreibt:

„Ländliche Räume rücken zunehmend wieder in den Fokus der sozialwissenschaftlichen Forschung, es ist gar von ›Land Rush‹ und der ›Wiederentdeckung der Landfrage‹ die Rede (Sippel/Böhme 2022: 117; Belina et al. 2022; Naumann et al. 2021). Soziale Disparitäten und ›infrastrukturelle Verlustnarrative‹ (Neu 2022: 247; Dudek 2021), aber auch Perspektiven auf neue Lebenschancen und soziale Innovationen sind dabei im Blick der Forschung, die gezielt das Land betrachten (z.B. Unthan/Heuser/Kratzer 2022; Belina et al. 2021; Burke et al. 2018).

Dabei speist sich die Forschung trotz aller Widersprüche auch aus der Hoffnung, eine sozial-ökologische Transformation könne von Akteur:innen in ländlichen Räumen neue Impulse im Kampf gegen den Klimawandel erwarten und gesellschaftlichen Wandel auch hinsichtlich neuer landwirtschaftlicher und fürsorglicher Praktiken anstoßen.

Im Kern all dieser Forschung steht der Begriff der Sorge. Die Sorge um eine „Weltökologie“ (Anlauf/Backhouse 2022) und Fragen der Extraktion, das Denken rund um die solidarische Care-Ökonomie (Winker 2021) und die Forschung zur Neuordnung von Stadt-Land-Verhältnissen (z.B. Sander 2022) treffen in diesem Diskurs aufeinander, ohne sich unbedingt aufeinander zu beziehen. Im Grunde ist diese Schnittmenge aus Sicht feministisch-ökonomischer Ansätze allerdings keine neue Gemengelage, hatte sie sich doch seit jeher mit Mensch-Natur-Verhältnissen auseinandergesetzt, die heute in den Mittelpunkt der Transformations- wie Landforschung rücken (z.B. Hofmeister/Mölders 2021; Dengler/Lang 2019; Hofmeister et al. 2019). Wir möchten in einem Workshop gezielt diese Schnittmengen betrachten, die eine Forschung zur Transformation von Care in ländlichen Räumen adressiert. Ländliche Commons können ein Ausgangspunkt sein, über die Transformation von Sorge und Praktiken der (Für-)Sorge nachzudenken. Aber gleichzeitig
sehen wir die vorgefundene Praxis auch unter dem Druck rechtspopulistischer Bewegungen wie auch milieuspezifischer Institutionenskepsis, die reflektiert werden muss (z.B. Bude/Haese 2022).

Wie sehen die Impulse aus, die von ländlichen Räumen anlässlich Care- und Klimakrise und Krise der öffentlichen Daseinsvorsorge ausgehen? Welche spezifisch ländlichen Antworten in Form von Praktiken können wir identifizieren, die Antworten auf diese Fragen und Transformationen geben? Und welche Praktiken der (Selbst-)Sorge für ein offenes, rurales Milieu in ländlichen Räumen lassen sich benennen?“

Im Grunde ist das die wissenschaftlich gedrehte Überlegung dessen, was StadtLandFrau bewegt. Der Workshop fand am 8. Dezember 2022 statt.

Literatur
Anlauf, Axel/ Backhouse, Maria (2022): Weltökologie. In: Fischer, Karin/ Hauck, Gerhard/ Boatcă, Manuela (Hg.): Handbuch Entwicklungsforschung. 2. Aufl. Springer VS.
Belina, Bernt/ Kallert, Andreas/ Mießner, Michael/ Naumann, Matthias (2021): Editorial: Vergessenes Land. Perspektiven auf rurale Entwicklung. In: PROKLA, 51. Jg. Heft 204, 3/2021, S. 400-414
Belina, Bernt/ Kallert, Andreas/ Mießner, Michael/ Naumann, Matthias (2022): Ungleiche Ländliche Räume. Widersprüche, Konzepte, Perspektiven. Bielefeld: Transcript.
Burke, Mathias/ Harmel, Eleonore/ Jank, Leon/ Kerkhoff, Sabeth (2018): Ländliche Verheißung. Arbeits- und Lebensprojekte rund um Berlin. Berlin: Ruby Press
Bude, Heinz/ Haese, Inga (2022): Aufbrüche in die post-urbane Gesellschaft: Die
Entwicklung des ländlichen Raums in Ostdeutschland, in: Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft. 2022, Heft 2. S. 279-296
Dengler, Corinna/ Lang, Miriam (2019): Feminism Meets Degrowth. Sorgearbeit in einer Postwachstumsgesellschaft. In: Ulrike Knobloch (Hg.): Ökonomie des Versorgens. Feministisch-kritische Wirtschaftstheorien im deutschsprachigen Raum. Weinheim: Beltz Juventa, S. 305-330
Dudek, Simon (2021): Die schleichende Krise strukturschwacher Kommunen. Zur Situation der Grundversorgung in ländlichen Räumen. In: PROKLA, 51. Jg. Heft 204, 3/2021, S. 417-434
Elsen, Susanne (2019): Solidarische Ökonomie: Entwicklungsströmungen,
Handlungsfelder und sozialräumliche Organisationsformen. In: sozialraum.de (11)
Ausgabe 1/2019. online unter: https://www.sozialraum.de/solidarische-oekonomie-entwicklungsstroemungen,-handlungsfelder-und-sozialraeumliche-organisationsformen.php, Datum des Zugriffs: 21.07.2022
Hofmeister, Regine /Mölders, Tanja (2021): Für Natur sorgen? Dilemmata feministischer Positionierungen zwischen Sorge und Herrschaftsverhältnissen. Verlag Barbara Budrich.
Hofmeister, Sabine/ Mölders, Tanja/ Onnen, Corinna (2019): Für_Sorge- Vor_Sorge. Feministische Perspektiven auf Natur(en) und Menschen, in: Beate Binder/ Christine Bischoff/ Cordula Endter/ Sabine Hess/ Sabine Kienitz/ Sven Bergmann (Hg.): Care: Praktiken und Politiken der Fürsorge: Ethnographische und geschlechtertheoretische Perspektiven. Leverkusen-Opladen: Verlag Babara Budrich, S. 263-275
Neu, Claudia (2022): Ungleiches Land. Eine ungleichheitssoziologische Betrachtung. in: Belina, Bernt et al. (Hg.), a.a.O., S. 237-252
Sander, Hendrik (2022): Strukturwandel im Mitteldeutschen Braunkohlerevier. Umkämpfte Transformation der ländlichen Naturverhältnisse, in: Belina, Bernt et al. (Hg.), a.a.O., S. 183-200
Sippel, Sarah Ruth/ Böhme, Michaela (2022): Gemeinschaftliches Gut, nationales Territorium, Finanzanlageobjekt. Aktuelle Neuaushandlungen von Land. in: Belina, Bernt u.a. (Hg.), a.a.O., S. 117-130
Unthan, Nils/ Heuser, Jacob/ Kratzer, Armin (2022): Das Recht auf Dorf. Von
Experimenten, Pionieren und (sozialen) Innovationen in ländlich-peripheren
Biosphärenreservaten, in: Bernt, Belina et al. (Hg.), a.a.O., S. 217-233
Müller, Sophia/ Mayer, Marius (2018): Initiatoren von Innovationsprozessen als Chance für die Regionalentwicklung peripherer ländlicher Räume? Eine akteursorientierte Untersuchung am Beispiel der Mecklenburgischen Seenplatte. In: Katja Wolter/Daniel Schiller/Corinna Hesse (Hg.): Kreative Pioniere in ländlichen Räumen. Innovation & Transformation zwischen Stadt & Land. Stuttgart: Steinbeis Edition, S. 240-273
Winker, Gabriele (2021): Solidarische Care-Ökonomie. Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima. Bielefeld: Transcript

in progress, 2021

Es gibt diesen Film über die Ausstellung vom OMA im New Yorker Guggenheim, über Countryside: The Future (2020-2021), und man sieht Koolhaas mit seinen Mitarbeitenden und Fans immer wieder auf einem schmalen Stück Acker am Rande der Stadt über ein Feld gehen, in eine Furche mit wachsendem Gemüse hinein. Koolhaas selbst, dessen Architektur die globale Urbanisierung des letzten Jahrhunderts geprägt hat, besinnt sich auf die Anfänge, die Ursprünge, und die Gefahr, die von einer völlig urbanisierten Gesellschaft ausgeht. Von den Zukunftsmöglichkeiten auf dem Land handelt die Ausstellung, mitten in der Metropole. Der Film hält diese Spannung zwischen dem urbanen Lifestyle der Ausstelungsakteur:innen und dem Inhalt dessen, was die Ausstellung mitteilen will, fest: Die Zukunft geht vom Lande aus, denn unsere Zukunft muss, wenn wir überleben wollen, dem Land eine neue Chance geben – das ist die Botschaft. Dem Land, der Landschaft, countryside, aber was ist dieses Land? Es entsteht in dem, was nicht gezeigt werden kann: Es ist das Gegenteil vom Ort der Ausstellung, des Guggenheims, und es ist das Gegenteil von den hippen Menschen, ihrer Kleidung, ihren Gesten, die wir sehen, den Titeln, die sie tragen, den Funktionen, die sie innehaben, denn sie alle könnten zur Landflucht beigetragen haben und zur Entvölkerung des ländlicen Raums, um in der Stadt ihr Glück zu versuchen.

Der Film drückt die Unvereinbarkeit dieses urbanen, an Architektur und Kunst interessierten Lebensstils mit dem monotonen, oft einsamen, arbeitssamen Leben im Einklang mit der Natur statt getaktet von U-Bahneinfahrten aufmerksam, indem er die Akteur:innen auf diesem Acker zeigt. Am ehesten noch repräsentiert Koolhaas selbst das, was countryside heute ist, weil er mit seinem Alter für all die Menschen steht, die in den Dörfern leben und ihr Leben lang nichts anderes taten als das, wozu das OMA uns nun anhält und einlädt: Gärtnern, den Kreislauf der Jahreszeiten achten, nachhaltig wirtschaften und leben. Was für ein spannendes Unterfangen von einem, der sein Leben lang die Städte prägte.

Countryside, The Future

Bei Fragen: mailto ingahaese at gmail dot com

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