Schön schöner Schöneberg

Im August flieht die abgasgeplagte Kreuzbergerin, also ich, in einen der Nachbarbezirke, um das Schöne zu genießen. Die Sonne brennt, Scharen von Touristen bevölkern den Heimatkiez, aber zum Glück ist Schöneberg nicht weit. Nur einen Katzensprung vom Park am Gleisdreieck entfernt erreicht man den verschlafenen Winterfeldtplatz bequem mit dem Rad. Hier beginnt die Goltzstraße mit ihren zahlreichen Cafés und den bestaunenswerten Auslagen kleiner Geschäfte, die auf beiden Seiten die Straße säumen.

Die Gentrifizierung der Goltzstraße

Der Schöneberger Kiez besticht ja nicht nur durch Schönheit und Gediegenheit und seiner verträumten, zurückhaltenden Geschäftigkeit, sondern auch durch die traditionellen Strukturen eines bürgerlichen Viertels, das sich seit den 1970er Jahren durch subkulturelle und alternative Einflüsse hat einnehmen lassen. So erklärt sich etwa die interessante Nachbarschaft aus Goldschmiede, Weinhandlung und persischem Restaurant in der Goltzstraße. Doch die Vielfalt der Geschäfte hat hier in den letzten Jahren Einbußen hinnehmen müssen. Im Grunde kann man in der Goltzstraße sehr genau betrachten, wie die Spirale von Attraktivitätssteigerung, Mietpreiserhöhung und Verdrängung alt-eingesessener Geschäfts- und Mietermilieus funktioniert. Der Verdrängungsprozess wird heute gemeinhin Gentrifizierung genannt, aber gemeint ist eigentlich die Verkettung von subkultureller Aufwertung maroder Wohnungsbestände, deren günstige Mieten die Attraktivität für ein studentisches oder kreatives Milieu steigert. Die Künstler*innen ziehen Geschäfte für Künstler*innenbedarf nach sich, die wiederum die Nachfrage nach Cafés und Bistros steigen lässt. Den Rest der Spirale sieht man jetzt allerorten in der Innenstadt: Als nächstes folgen Starbucks und womöglich 15 weitere Foodstores, Eigentumswohnungen und Bürogebäude und die obligatorischen Scharen von internationalen (Feier-)Touristen.

In der Goltzstraße erwischte die Gentrifizierung im letzten Jahr das „Café Sorgenfrei“, das sich auf Einrichtungsgegenstände aus den 50er und 60er Jahren spezialisiert hatte und nebenbei Kaffee anbot. Es musste schließen – der Grund war eine saftige Mieterhöhung. Trotz medialer Aufmerksamkeit nahm der Vermieter die Forderung nach 57% mehr Miete nicht zurück. Ebenso erging es dem Antiquitätengeschäft „Das alte Bureau“ eine Tür weiter. Der Ladeninhaber, ein Mann jenseits der 60, erhielt hier seit den 1980er Jahren den Charme der alternativen Hausbesetzerzeit in der Straße aufrecht.

Nordliebe statt Sorgenfrei

Statt Sorgenfrei gibt es nun die Interieur-Design-Perle „Nordliebe“ in der ehemaligen Metzgerei, die das Trottoir der Goltzstraße zeitweilig zu einer Schöner-Wohnen-Landschaft verwandelt. Geschmackvoll werden hier skandinavische Körbe, Gießkannen und Kissen zwischen Blumen und Stauden drapiert, derart einladend, dass man den Cafébetrieb vermisst. Im Inneren begrüßen einen wie eh und je die Jugenstil-Kacheln mit ihren dezenten Blumenzeichnungen. Heute würde man dazu Blumenprint sagen und tatsächlich erweist sich der Zeichenstil der Jahrhundertwende als hochmodern, die angebotenen Gegenstände fließen in ihren dezenten Grün- und Grautönen geradezu in die Wanddekoration über. Kurz eine Prise creme- und pastellfarbiges Wohlfühl-Design einatmen, Stühle, Teppiche, Schüsseln bestaunen, und dann die Preise begutachten – und den Sinn von Gentrifizierung verstehen. Ein Wäschekorb für 59 Euro ist das günstigste, was ich entdecken kann. Die hohe Miete muss natürlich bezahlt werden, und wenn die jungen, weiblichen Protagonistinnen mit blonden Pferdeschwänzen und Sinn für nachhaltiges Design schaffen, was die Betreiber des „Café Sorgenfrei“ nicht schaffen konnten, dann liegt in der Hochpreisigkeit wohl ihr Erfolgsrezept. Wie exemplarisch stehen die männlichen Verlierer und die weiblichen Gewinner eigentlich für den urbanen Kapitalismus?

Ich werfe einen Blick über die Straße. Da ist an prominentester Stelle, beinah einen ganzen Häuserblock einnehmend, der Bastelbedarfladen „Hobbyshop Wilhelm Rüther“. Er will so gar nicht zu den Café- und Boutiquenfassaden in der Nachbarschaft passen, mit den grellen 80er-Jahre Schriftzügen und den altmodisch dekorierten Schaufenstern, die Schul- und Bastelwelt so hergeben. Der Hobbyshop bezeugt noch eine Zeit, in der Berlin für David Bowie ein Fremdwort war, es war die Zeit der Studentenunruhen, die Insel Westberlin von 1969. Das Geschäft, ein Familienbetrieb, von Wilhelm Rüther gegründet und von Martin Rüther fortgeführt, profitiert von einem Vermieter, der nicht auf Profite aus ist.

Wo sich Künstler*innen tummeln ist das Schöne zu Hause

Wie lange das so bleiben wird, das weiß Martin Rüther nicht. Doch feiert das Geschäft gerade sein 50-jähriges Bestehen, und hier gibt es wirklich alles, was das Deko- und Bastelherz begehrt, freundlicherweise sogar günstiger als die vergleichbare Auswahl beim IKEAesken „modulor“. Der Hobbyshop besticht mit seiner kruschigen Atmosphäre und seinen kompetenten Mitarbeitern, die einen hilfsbereit und humorvoll, manchmal im Pfälzer Dialekt, durch die Regale lotsen. Als Geheimtipp erweist sich die Ecke hinter der Hochzeitsdeko – hier gibt es günstige Puppenhausmöbel mit wirklich niedlichem Zubehör wie einem Mini-Teeservice aus Porzellan.

Neben dem Hobbyshop erstrecken sich zugehörig zum Bastelgeschäft noch der „Perlen-Center“ sowie ein Künstlerbedarfsladen: Hier ist die Ausgangslage der Gentrifizierung immerhin noch sichtbar. In solch guter Nachbarschaft sind seit den 1970er Jahren wie im Lehrbuch die tollsten Cafés und Restaurants gediehen, die von der angelockten Künstler*innenschaft und ihren Liebhaber*innen profitierten. Denn wo sich Künstler*innen tummlen, da ist das Schöne zu Hause. Und wo das Schöne weilt, da sind die Geschäftemachenden nicht weit, und so staune ich an diesem sonnigen Augusttag über die Designer-Läden, die hier wie Pilze aus dem Boden geschossen sind.

Weitere Juwelen der Schönheit in der Straße sind der Hochzeitsschneider „Chiton“ und das Kinkerlitzchen-Geschäft „Mobilien“, das durch eine bunte Mischung von Postkarten, Kinderkissen und Kinkerlitzchen lotst. Nicht zu vergessen das „House of Pfeiffer“, eine Lederwerkstatt mit Verkauf von handgemachtem Interieur und Modeaccessoirs – eine ästhetische Mischung aus Korbgeflecht, Textilem und Lederriemen, deren Anblick einem das Herz erwärmt. Bezahlbar ist das alles nicht, aber schön anzusehen. Und tatsächlich ist auch hier eine Inhaberin am Werk – das weibliche Gegenüber zu Martin Rüthers Bastelgeschäft lässt sich ihre Kunstwerke einiges kosten, und muss vermutlich genauso viel Miete zahlen wie die Inhaberin der „Nordliebe“.

Normalsterblichen bleibt, das Sale-Angebot von „UVR“ wahrzunehmen – auf der anderen Straßenseite hat das Berliner Modelabel seine Schöneberger Filiale. Hier wird der urbane Look gefeiert: Schlichte, weite Schnitte in gedeckten Farben und interessanten Plissee- und Brokatstoffen, und ab und zu lässt das Label kleine Ausnahmen springen und trumpft mit waghalsigen Prints auf. Aber jetzt reicht es mir mit den schnieken Läden, ich biege an der Barbarossastraße ab – das Café Bretagne lädt hier mit seiner kleinen Terrasse auf ein Croissant in der Sonne ein.

Die tragische Ambivalenz der Schönheit

Die Ruhe, die von den alten, hochgewachsenen Platanen ausgeht, die trägen Flaneure und die Tatsache, dass der touristische Hotspot jenseits dieser Straßen liegt, weist auf der Gentrifizierungsskala des Möglichen eindeutig auf die Luft nach oben hin, die hier wohl noch exisitiert. Denn natürlich ist es die Mischung aus dem Luxus des Schönen in Kombination mit dem Luxus des Herumtreibens, die ganz kurz vor dem Überkippen in die Exklusivität des Reichtums ihr spannendstes, flirrendstes Moment entfaltet. Es ist diese Melange, die Berlin in den letzten zehn, zwanzig Jahren so anziehend gemacht hat, und in diesem Moment in genau dieser Straße entfaltet der Prozess der Gentrifizierung seine tragische Schönheitsambivalenz. Das Nachbarhaus von Hobby Rüther ist noch nicht fertig saniert, die Plastikplanen in den Fenstern können noch nicht preisgeben, welche Drehung der Mietpreisspirale sich als nächstes hier zeigen wird – oder auch nicht -, der Atem scheint für diesen Moment stillzustehen, nur um mit dem nächsten Ausatmen einige Altmietparteien wieder auszuspeien, die für die Schönheit nichts mehr übrig haben. (Die Auflösung im Oktober 2019: Es ist die zweite Filiale des mailändischen Brotbäckers „Sironi“! Lieblingsbäcker aus der Markthalle 9!)

Und ich muss los, zurück nach Kreuzberg, mitten hinein in das touristische Getümmel, das Gottseidank, Schöneberg noch nicht eingenommen hat.

Veröffentlicht von stadtlandfrau

Dr. Inga Haese, Soziologin, Gärtnerin, Leserin, Mutter, Feministin, Kirchenaktivistin. Lebt in Berlin und bei Storkow in Brandenburg.

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