Kurz vor Weihnachten wurde ich ans Sterbebett meiner Großmutter gerufen. Noch in der Nacht, in der ich anreiste, wurden mir und meiner Mutter Sonderbesuchserlaubnisse für das Pflegeheim erteilt. Die entließen uns von der Pflicht, lästige Besuchstermine zu vereinbaren und erlaubten uns, nach eigenem Ermessen ein- und auszugehen: Man muss es wohl Privileg nennen, das in diesem und vielen anderen Pflegeheimen unter Corona-Bedingungen den Angehörigen von Sterbenden gewährt wird, allerdings auch erst dann, wenn das Sterben ärztlich attestiert wurde. Und trotz der Ausnahme, die mir zuteil wurde, ohne Umschweife nachts ins Pflegeheim eingelassen zu werden, gibt es Grund zum Aufschrei und zum Beklagen der Zustände in Pflegeheimen, die unter Corona noch mehr unter Druck geraten sind als sie es ohnehin schon waren.
Sicher, nichts daran ist neu. Seit Jahren wird die Situation älterer Menschen und die Bedingungen für Pflegende „Pflegenotstand“ genannt. Aber es ist das eine, darüber zu lesen. Und das andere, mit eigenen Augen zu erfahren, was das Wort bedeutet. Ich durfte diese denkwürdige Dezembernacht, in der es hieß, Großmutter stürbe, bei ihr verbringen, zwischen Hoffen und Weinen, Beten und Loslassen. (Wer denkt, es standen Corona-Schnelltests für Besuchende wie uns zur Verfügung, der irrt. Viele Pflegeheime waren dem Virus auch 10 Monate nach Beginn der Pandemie schutzlos ausgeliefert.) Ich nahm Großmutters Hand, sagte ihr, wie schön sie sei und befeuchtete ihre Lippen, ich wollte ihr Leben keinesfalls aufgeben. Sie war zuvor grauenvoll gestürzt. Eine Kopfverletzung und gebrochene Rippen hatten sie, die schon den ersten Lockdown mit fortschreitender Demenz bezahlt hatte, ganz verstummen lassen. Sie nickte schwach, konnte ihre Augenlider nicht heben und alles, was sie tat, war die Anstrengung des Hoch- und Niedersenkens ihres Brustkorbes. Die Nachtschwester winkte ab, als ich um Wasser bat: „Sie kann nicht mehr schlucken“, hieß es von ihr. Ein Geistlicher wurde gerufen, die letzte Ölung vollzogen.
Einflößen und Einträufeln
Diese Nacht war wie die erste Nacht mit einem Neugeborenen: Immer wieder musste ich mich vergewissern, ob sie am Leben sei, ob sie noch atmete, ob sie noch bei mir war. Sie war. Ich schlief kaum, strich ihr Honig auf die Lippen, aber am nächsten Morgen öffnete Großmutter ihre Augen wieder und nahm den Tee an, den ich ihr zwischen die Lippen träufelte. Ich war unfassbar erleichtert. Ich bat sie, durchzuhalten, bis mein Bruder käme. Sie lächelte. Und nahm Teil an meiner Gegenwart. Sie lebte. Sie trank. Sie aß. Es war alles eine Frage der Zuwendung, der Zeit für das Einflößen und Einträufeln. Ich war glücklich und fühlte mich beschenkt, ich hörte ihr zu, der 90-Jährigen, die sich über ihren Krankenhausaufenthalt in völliger Einsamkeit in den Vortagen beschwerte: Wo wart ihr denn? Ich konnte sie nur trösten, indem ich ihr beipflichtete: Es seien unwürdige Zustände, das Besuchsverbot wegen Corona eine Zumutung. Wie soll ich vor ihr rechtfertigen, was doch unfassbar ist? Ich sagte auch: Dass ich jetzt hier sein darf ist ein Geschenk. So viele Menschen im März und April mussten alleine bleiben.
Im Krankenhaus hatten sie gesagt, Großmutter sei dehydriert gewesen. Sie wurde an den Tropf gelegt, der Flüssigkeitsmangel ausgeglichen. Es passiert nicht selten, dass Schmerzpatienten vergessen zu trinken. Aber noch öfter ist es in den Pflegeeinrichtungen so, dass aufgrund der Personalknappheit zu wenig Zeit ist, bettlägerigen oder dementen Bewohner:innen genügend Flüssigkeit zuzuführen. Der Sturz meiner Großmutter erwies sich als Glück im Unglück, denn ohne den Krankenhausaufenthalt hätten wir ihren Zustand nicht als Folge von Flüssigkeitsmangel verstehen können; und ohne den Sturz wäre uns, die wir entfernt wohnen, die ernste Lage nicht so klar vor Augen gestanden.
Die Kategorie als Sterbende
Großmutter stabilisierte sich allen Vorhersehungen zum Trotz. In den kommenden Nächten durfte ich weiter bei ihr schlafen, auf der Besucherliege. Mein Bruder kam, wir durften ihr zu Essen und zu Trinken geben, denn die Sondergenehmigung wirkte fort – noch war meine Oma als Sterbende etikettiert, deren Zustand sich leicht besserte, und so grotesk es klingt: wir profitierten von dieser Kategorie. Ich sah, wie wenig Zeit die Pflegenden für die einzelnen Menschen aufwenden können; eine Frau, die nicht mehr selbst ihr Getränk zum Mund führen kann, bekommt zu wenig. Auch wenn das Heim ein Ordensstift ist, auch wenn die tamilischen Ordensschwestern wie Engel aussehen, auch wenn der reguläre Betreuungsschlüssel von 14:2 unfassbar gut ist im Vergleich zu Pflegeheimen anderer Träger: Personalnotstand gibt es auch hier; Schichten, die nur einfach besetzt werden können; Personalmangel am Wochenende; Abzug von Personal für die Corona-Terminvergabe und das Fiebermessen an der Pforte, neuerdings auch für die Corona-Schnelltests im Extraraum. Das 3-Schichten-System auch an Feiertagen ist hardcore, die Arbeit ein Knochenjob, dreimal nachts werden die Patienten umgelagert, und das geht auf den Rücken, trotz hochfahrbarem Bett.
Wie viele an Vernachlässigung durch den Pflegenotstand gestorben sind ist nicht nachvollziehbar
Eine Pflegerin, die aufgrund der Krankheit des Kindes oder wegen Halsschmerzen ausfällt lässt hier 14 Menschen warten: Das sind 14 Menschen, deren Münder vielleicht austrocknen, deren Bettlaken mit Urin getränkt sein können, deren Haare und Füße nicht gewaschen werden, im schlimmsten Fall sind es die, die nicht mehr selber essen können und für die nur 3 Minuten zum Füttern zur Verfügung stehen. Wer in diesen Minuten nichts essen mag, der bekommt nichts mehr. Wie viele Menschen an Vernachlässigung durch den Pflegenotstand gestorben sind, ist nicht berechenbar, es lässt sich nicht nachvollziehen. Die Pflegerinnen und Pfleger geben sicherlich ihr Bestes – das ist von Fall zu Fall, wie in jedem Job, unterschiedlich. Die Eine weiß, dass Großmutter gern Malzbier trinkt, die Andere bringt Obstbrei, die Dritte spricht verständnisvoll mit ihr. Die Vierte kommt, wie Großmutter flüstert, „nur fürs Geld.“
Durch die Rationalisierung und die damit einhergehende Zeitknappheit fokussiert sich die Arbeit auf Körperfunktionen
Morgens und abends werden die 14 Patient:innen „frisch gemacht“: Ausziehen, waschen, anziehen, schnell-schnell und mit fröhlichem Gruß. Am Morgen wird das Bett frisch bezogen, geschwind die Zähne geputzt, das Gesicht eingecremt. Das alles unter dem wahnsinnigen Zeitdruck der täglich getakteten Abläufe von Frühstück, Mittagessen, Kaffee und Abendbrot, jeden Tag zur gleichen Zeit, nur für die Bettlägrigen wird es früher oder später, sie werden an all die vollen Windeln und leeren Gläser und die Dokumentationen des Dienstes drangehängt, mal mehr, mal weniger spät. Es ist ein fordistischer Akt, der von den Arbeitenden mit größtmöglicher Würde ausgefüllt wird, auch wenn für Würde nur ein enger Korridor existiert. Es ist die individuelle Freundlichkeit und der Sanftmut, die sich die Pflegekräfte bewahren, obwohl sie wissen, dass sie ihrer eigentlichen Arbeit, der Zeit mit den Menschen, nicht gerecht werden können. Denn Pflege alter Menschen bedeutet mehr als die Produkte körperlicher Verrichtungen immer aufs Neue zu bereinigen. Es ist die Frage, wie es geht. Das Zuhören, wenn es schlecht geht. Das Eingehen auf ein Bedürfnis nach etwas zu Trinken, zu Denken, nach Beschäftigtsein. Eine ungeplante Beschwerde, ein Extraanruf: Kostbare Zeit, die „am Patienten“ verloren geht. Durch die Rationalisierung und die damit einhergehende Zeitknappheit fokussiert sich die Arbeit auf Körperfunktionen. Das Bereinigen wird zum wichtigsten Teil der Arbeit. Statt des Fütterns steht eher noch das Wegwischen von dessen Spuren im Vordergrund, das Spurenverwischen ist die Überschrift der heutigen Seniorenpflegearbeit: Danach richtet sich das Qualitätsurteil der Einrichtungen. Die Kriterien von Gütesiegeln, es sind Parameter wie die verstrichene Zeit nach einem Klingelton und dessen Abschalten, die erfasst wird.
Aber zurück zu meinem Erleben. Ich erlebte nun unverhofft eine Woche des Aufwärtsgehens anstatt des Abschiednehmens, des Anteilnehmens anstatt des Sterbens. Mein Bruder, Mutter und ich pflegten Oma in 24-Stunden-Betreuung, dankbar um unsere Sondergenehmigung, auch angesichts des nahenden zweiten Lockdowns am 16.12., von dem in Nordrhein-Westfalen die Pflegeheime ausgenommen werden sollten. Wir träufelten Großmutter mit einer Pipette Tropfen um Tropfen mehr Leben ein, ihre Beule am Kopf schrumpfte, sie aß wieder. Die Nachtschwester nahm sich jetzt mehr Zeit für sie, ich sah es: Sie hatte in der ersten Nacht falsch orakelt, und es tat ihr Leid.
Keine Millisekunde Überschuss
An manchen Tagen sah ich jeweils morgens und mittags eine Pflegerin, das war‘s bis zum Nachmittag. Dabei kümmerten sie sich rührend um uns Angehörige, brachten uns jede Mahlzeit vorbei, waren dankbar für unsere Hilfe. Nicht nur die Bewohner:innen selbst, auch die Pflegekräfte sind auf die tatkräftige Unterstützung der Angehörigen angewiesen: Jeder Gang zur Küche, den wir selbst erledigen können, nimmt ihnen Arbeit ab. Doch unter Corona-Bedingungen wird diese Hilfe strafbar: Weder Wasserflaschen noch Tee noch Tupfer darf ich laut Verordnung holen. Die Zeitknappheit der Pflege manifestiert sich auch in der Unmöglichkeit unter Corona, den Pflegekräften ein wenig wertvolle Zeit schenken zu können. Es gibt keine Millisekunde überschüssiger Zeit in der Pflege. Wer diesen Job macht ist entweder abgebrüht oder leidensfähig. Vielleicht hält man es durch, wenn man von Natur aus faul ist oder besonders humorvoll. Denn sonst droht Burnout, das ist klar: Eine Bewohnerin ruft den ganzen Tag „Hallo! Hallo!“, ganz egal, ob jemand bei ihr ist oder nicht. Eine andere klingelt ununterbrochen und vergisst, wie sie auf die Toilette kommt. Die Bettlägerigen sind so gesehen einfacher, außer wenn sie aus dem Bett fallen.
Das krasse ist für meine Großmutter, dass sie nicht nur ihre Schwiegermutter, die Schwester und ihren Mann selber gepflegt hat, sondern auch sämtliche Nachbarn, Freunde, sogar Hunde. Sie war Krankenschwester, sie wusste wie es geht. Sie, die mit Warmherzigkeit pflegte, in dieser durchrationalisierten Welt zu sehen, tat weh. Nach einer Woche kam die Ärztin. Sie sah, dass Großmutter nicht sterben würde. Sah, dass sie Weihnachten erleben würde. Fand, wir hätten gute Sorgearbeit geleistet. Und meinte, wir könnten sie nachts getrost alleine lassen. Und nahm uns damit auch die Sondergenehmigung für den Dauerbesuch. Unser „allgemeines Besuchsrecht“, die Härtefallregelung, erlosch; ich musste mein Bett an Großmutters Seite räumen. Am nächsten Morgen wollte ich zu ihr, doch nichts half: „Wie Ihnen geht es Millionen von Anderen auch“, das war alles, was die Eingangswächterin an Mitgefühl für mich aufbringen konnte. Die strenge Person mit einem freundlichen Gesicht war unerbittlich, regelkonform: „Machen Sie einen Termin, dann können Sie heute Nachmittag wiederkommen.“ Sie hätte auch sagen können: Danke, dass Sie sich bis hierhin so bemüht haben, den Pflegenotstand aufzufangen, aber ab jetzt muss wieder reichen, was ohnehin nicht ausreicht. Der Tod kommt dann eben übermorgen wieder. Und trotzdem, natürlich, kann ich kaum ausdrücken, wie dankbar ich über die Sonderregel war, die uns das Heim eingeräumt hatte. Nicht auszudenken, es wäre April gewesen. Für alle, die im Lockdown ihre Angehörigen nicht verabschieden durften, gilt an dieser Stelle mein tiefstes Mitgefühl.
