Das Auslagern und Ausblenden trifft ziemlich genau den Kern dessen, was unsere Existenzgrundlage ausmacht.
Krieg in Europa und die Flucht unzähliger Menschen; Zerstörung, Tod, Hunger, Gewalt, Not. Die Kriegsbilder aus der Ukraine brennen sich ein, und die Schicksale der Menschen dort wecken die Schatten unserer Vergangenheit auf – nicht nur die der Überlebenden und der Kriegskinder, die Not, Vertreibung und Vergewaltigung kennengelernt haben, sondern auch in uns, den Nach-Nachkommen, in deren DNA sich die Erlebnisse der Weltkriege tief eingeschrieben haben. Krieg und Kriegsnot rühren an einer Ur-Angst unserer Existenz.
Das große Heft: Das Buch zu lesen ist qualvoll, und doch nur ein Bruchteil echter Kriegsqual.
Vor kurzem las ich „Das große Heft“ von Ágota Kristóf und es war kein Tag zu früh, es zu lesen. Kristóf beschreibt die unfassbare Abgestumpftheit, die durch jedes Kriegsregime erzeugt wird, so brutal und unerträglich, dass das Lesen schmerzt. Es geht um zwei Kinder, die zu ihrer grausamen Großmutter aufs Land geschickt werden, damit sie den Krieg überleben. Die Mutter hält es nicht für möglich, die Kinder in der Stadt durchzubringen. Und es ist wörtlich zu verstehen: die Kinder überleben den Krieg. Nicht aber die unmenschlichen Umstände und die Gewalt, der sie ausgesetzt sind und die ein Kriegsregime – also das Regime aus Not, Verzweiflung, nacktem Überlebenstrieb und Brutalität nach sich zieht. Ihre Verrohung ist grenzenlos. Ausgerechnet die Großmutter, sonst Symbol für grenzenlose Fürsorge gepaart mit Weisheit und Nachgiebigkeit – ja, eigentlich ein Symbol für Menschlichkeit – pervertiert hier zum Höllenhund der Unterwelt.
Das Auslagern und Ausblenden trifft ziemlich genau den Kern dessen, was unsere Existenzgrundlage ausmacht.
Der Frieden in Europa war uns selbstverständlich erschienen, weit entfernt von den Bedrohungen existierender Kriege. Die Kriegsgeschichten der Alten, die noch leben, entstammten scheinbar einer untergegangenen, vormodernen Zeit. Es schien, als könnten die technischen Errungenschaften, das entfaltungswütige Leben und die demokratischen Strukturen triumphieren und jegliches Kriegsgeschehen weit weg sperren. Man hatte irgendwann Heinrich Böll gelesen, und das ausgebombte Köln, das er beschrieb, war in so unerreichbar weite Ferne gerückt; es war Mahnung und Erinnerung, aber weit, weit weg. Syrien und Irak, die Kriege dort hatten so wenig mit uns zu tun wie der Balkankrieg, so scheint es aus heutiger Sicht für viele Deutsche gewesen zu sein. So, als sei unsere Demokratie, unser Staat, unser Wohlstand, unser Frieden seit 1990 eine unerschütterliche Gewissheit. Der Soziologe Stephan Lessenich hat diese Lebensweise mit „externalisieren“ beschrieben, und dieses Auslagern und Ausblenden trifft ziemlich genau den Kern dessen, was unsere friedliche Existenzgrundlage ausmacht.
Großmutters konservierende Tätigkeiten waren noch der Notwendigkeit geschuldet – sie lebten vom Bewusstsein des Überlebens.
Und die eigene Großmutter, die war doch steinalt. Mein Bruder und ich belächelten ihre Vorliebe für Nudelsalat mit Zutaten aus Konservendosen; ihre Sammelwut, das Bloß-nichts-wegschmeißen-dürfen, das Sortieren und Wiederverwerten, das Ausbessern, das Einkochen von Marmeladen in großen Mengen und das Einmachen von Gemüse – all das war so unglaublich antiquiert, es waren Praktiken aus einer vergangenen Zeit; einer verstaubten Zeit, in der Spießigkeit herrschte und die mit großväterlichem, patriarchalem Pathos einherging. Denn Großmutters konservierende Tätigkeiten waren der Notwendigkeit geschuldet, sie lebten vom Bewusstsein des Überlebens. Ich höre Sie sagen: „Das ist viel Arbeit.“ Wenn Angehörige meiner Generation, die der 40-jährigen, Quittengelee mit einem Hauch Pinot Grigio einkochen oder Strampelhosen selber nähen, dann erleben wir das nur noch als entfernt verwandt mit Großmutters Tätigkeit. Denn wir empfinden dieses Tun nicht mehr als eine Arbeit, die verrichtet werden muss, sondern als eine willkommene Abwechslung, als eine nachhaltige Praktik zum „Abschalten“, gar als Möglichkeit zur Entspannung von der üblichen Kopfarbeit – Stichwort Achtsamkeit und Selbstwirksamkeit. Nichts weniger verspricht unter diesem Aspekt die Gartenarbeit oder der Hobbybau: all die trendigen DIY-Tätigkeiten des Verschönerns und Selbermachens. Für die Großeltern war es Notwendigkeit, den Dachboden selber auszubauen, die Möbel zu zimmern, Kleider zu nähen. Und natürlich Birnen, Kirschen und Bohnen einzuwecken. Für die vielen Kopfarbeitenden mit akademischen Abschlüssen hingegen scheinen diese Tätigkeiten eher ein Sinnbild von Erholung zu sein, in der freien Zeit etwas anderes zu tun als den Anforderungen des Arbeitsmarktes zu entsprechen.
20 Jahre des Wartens und des Verstreichenlassens von Möglichkeiten zu einer nachhaltigen Versorgungspolitik, weil Frieden und Überfluss, Weltwirtschaft und Profitstreben so wunderbar ineinandergriffen, dass niemand an das Morgen denken wollte.
Wie absurd aber erscheint uns um die 40-jährigen dieses Verständnis jetzt, angesichts der Aktualisierung von Kriegsangst und Hungersnöten? Wie tief vergraben waren diese existenziellen Ängste, die Angst vor Rohstoffknappheit, vor Hunger, die viele jetzt befällt und zu Hamsterkäufen anregen? Wie unnachhaltig wurden dennoch Lebensmittel angebaut und hergestellt? (Jetzt, an einem Punkt, da nach Jahren des Kampfes und des Bettelns von Umweltschützer:innen endlich die Böden und die Artenvielfalt in Europa geschont und geschützt werden sollten, nämlich 4% der Flächen, jetzt ist dieser Schritt vermutlich zu spät.) Diese Ungehörigkeit ist unfassbar: 20 Jahre des Wartens und des Verstreichenlassens von Möglichkeiten zu einer nachhaltigen Versorgungspolitik, weil Frieden und Überfluss, Weltwirtschaft und Profitstreben so wunderbar ineinandergriffen, dass niemand an das Morgen denken wollte.
Wir müssen mit der Schuld leben, dass unser Wegschauen vor russischem Imperialismus mindestens seit 2014 (wer Anna Politkowskaja gelesen hat, weiß, es ist schon seit 2006; und wer die Doku „Putins Zeugen“ gesehen hat, weiß, es ist schon seit 2000) das Leid der Ukrainer:innen mitverursacht hat. Was wir tun können: das Gefühl der Unerschütterlichkeit des Friedens, den unsere Großeltern für uns aufgebaut haben, ablegen und seine Verwundbarkeit anerkennen. Wir mussten für den Frieden noch nicht viel tun, aber jetzt ist es an der Zeit, die Energiewende mehr als je zuvor als Friedensgarantie zu betrachten.