Suspendierung des Alltags. Was es für Familien bedeutet, wenn Bildung und Betreuung keine Garantien, sondern Lotteriespiel sind

Für die meisten ist der Pandemiezustand vorüber, ein neues Kapitel in einer neuen Normalität wurde längst aufgeschlagen. Für andere setzt sich der Zustand fort, sei es wegen Long-Covid, einer Risikogruppenzugehörigkeit oder weil mensch Kinder im Betreuungs- und Grundschulalter hat. Auch im letzten Fall nämlich hapert es am gewünschten „back to normal“ gewaltig und Zahlen über Erwerbskonstellationen in Familien sind ernüchternd. Gedanken zum zweiten Lehrer:innenstreiktag in Berlin am 22. März.

Die Grundschule meiner Kinder ist grundsätzlich eine gute Schule. Sie war es besonders, bis in den letzten Schuljahren immer mehr altgediente Lehrer:innen und Erzieher:innen in den Ruhestand gingen und nicht genügend Neue nachrückten. Spätestens in diesem Schuljahr hat der berlinweit beklagte Personalmangel mit voller Wucht die Klasse meiner Tochter getroffen. Es hieß zunächst, wir hätten doch noch Glück! An anderen Schulen sei die Situation schon lange verheerender. Es würden immerhin junge Lehrer:innen und sogar Erzieher:innen eingestellt! In der Realität heißt das aber: Nach Jahren des Ausnahmezustands durch die Corona-Politik mit Schulschließungen, halbierten Klassen, halbiertem Unterricht und Notbetreuung geht an (Berliner) Grundschulen der Ausnahmezustand weiter.

Außeralltäglicher Alltag

Diesmal ist es wieder der Streik. Zwei Tage fallen ihm in dieser Woche zum Opfer. Letzten Monat waren es zwei Tage Streik plus ein Tag Personalversammlung plus der übliche Stundenausfall, weil die angekündigte neue Lehrkraft von der Senatsverwaltung keinen Vertrag vorliegen hatte. An einem Tag hieß es „Morgen fällt die 1. Stunde aus.“ Am nächsten Tag fällt die 5. Stunde aus. So geht es munter weiter, und der Unmut in der Elternschaft ist verständlich, nur ist niemandem damit geholfen, wenn der verbliebenen letzten Lehrkraft dieser geballte Unmut vor die Füße geworfen wird, denn prompt ist auch diese krank. Ein alltäglicher Schulalltag ist unter solchen Umständen schwer.

Hurra, eine Stunde findet statt!

Die Adresse, an die dieser Unmut gehört, sind nicht etwa einzelne Lehrpersonen oder Schulleitungsteams, die unter widrigen Umständen ihr bestes geben, sondern selbstverständlich der Berliner Senat und die Regierungsfraktionen, die seit wirklich vielen, vielen Jahren sämtliche Warnschüsse, Notrufe und Aufrufe in den Wind geschossen haben. Die nun begonnene Verbeamtung kommt rund zehn Jahre zu spät. Damals hätten die händeringend gebrauchten Lehrkräfte noch mit dem Hauptstadtargument geworben werden können. Heute interessiert das niemanden mehr, die Berliner Bildungsmisere ist längst zum Standortnachteil mutiert, denn unter angehenden Lehrer:innen hat sie sich bis in den letzten Winkel der Republik herumgesprochen. Die Suspendierung des Schulalltags betrifft nicht nur die Kinder, für die mangelnde Routinen leicht zum Bildungsnachteil werden können, sondern genauso die Eltern, die mit Mühe und Not ihren Arbeitsalltag aufrecht erhalten. Sorgsam geplante Abläufe müssen stets neu verhandelt, ohnehin anstrengende Aushandlungen zwischen Eltern (oder anderen betreuenden Personen) im Abhol- und Zeitregime jede Woche neu geführt werden.

SZ-Magazin am 24. März 2023

Wen wundert es da, wenn Mütter immer lauter über die Unvereinbarkeit von Kinderhaben und Beruf klagen? Pünktlich zum Berliner Lehrer:innenstreik veröffentlichte die SZ am 21.3. eine Statistik zu diesem Gefühl: Die Abweichung zwischen der gewünschten Aufteilung der Familienarbeit zwischen den Eltern und der real existierenden ist so groß, dass wir uns beinah mitten im letzten Jahrhundert wähnen könnten (Grafik „Theorie und Praxis“).

Während die gewünschte Aufteilung in der Kinderbetreuung bei einer zu gleichen Teilen übernommenen Betreuung liegt, sieht die „tatsächliche“ Aufteilung zwischen Eltern so aus, dass Mütter auch 2022 noch die meiste Kinderbetreuung leisten. Wer diesen Anteil der „realen“ Betreuungsübernahme einschätzt, geht nicht aus der Grafik hervor – sind es die Mütter? Die Väter? Beide? Wurden nur heterosexuelle Paare befragt? (Über andere Konstellationen sagt die Statistik nichts aus.) Wie auch immer die Details aussehen, die Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist frappierend. Und sie trägt dazu bei, dass die staatliche Bildungsmisere auf dem Rücken von Müttern ausgetragen wird. Denn der ausgleichende Einsatz der betreuenden Mütter heißt im suspendierten Familienalltag, dass Mütter mit Grundschulkindern konkrete Bildungsaufgaben übernehmen müssen, für die es einen schulischen Regelbetrieb geben sollte.

Dafür reduzieren wiederum die Mütter ihre Stellen, und nicht zuletzt können sie deshalb weniger finanziell vorsorgen – ähnlich wie zu Coronazeiten – und nehmen geringere Altersrenten in Kauf. Denn die Zahlen sind noch eindeutiger, wenn wir die Erwerbskonstellationen von (heterosexuellen) Elternpaaren betrachten. Folgende Grafik aus der SZ wertet Zahlen von 2020 aus; da ist das Corona-Beben in den Familien noch gar nicht abgebildet.

Das relative Abschmelzen des männlichen „Alleinverdienermodells“ von 32 auf 26 Prozent ist erkennbar, wenn auch seit 2016 kaum weiter gesunken. In diesem Drittel widmen sich die Mütter vollständig der Familienarbeit. Bis 2016 gibt es auch ein kleines Wachstum bei solchen Elternpaaren, die mit (zumindest in Westdeutschland) ansozialisierten Erwerbsrollen experimentieren (Frau Vollzeit, Mann Teilzeit), allerdings sinkt er danach wieder. (Schon deshalb würde eine Unterscheidung in Ost- und Westdeutschland Sinn machen: Im Osten sind die Erwerbskonstellationen ausgeglichener). Der Anteil an Konstellationen, bei denen die Mutter Alleinverdienerin ist, ist insgesamt von 5 auf 3 Prozent gesunken. 2020 arbeiten 50 Prozent der Frauen mit Kindern in Teilzeit. Warum das so ist?

Vielleicht hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass immerhin 68 Prozent der Mütter erwerbstätig sind, d.h., die „gefühlte Gleichstellung“ ist durch die Teilzeit-Teilhabe von Frauen an der Arbeitswelt wesentlich höher als die der tatsächlich entlohnten Arbeit (was die Gender Pay Gap u.a. erklärt). Denn wenn in 69 Prozent der Familien die Väter in Vollzeit arbeiten – d.h., den größten Teil ihrer Lebenszeit mit Erwerbsarbeit verbringen – dann ist das ein Indiz dafür, dass sich im letzten Jahrzehnt viel weniger in puncto Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mütter getan hat, als es unserem oben abgebildeten Ideal entspricht. Weder für Väter noch für Mütter ist das eine wünschenswerte Situation.

Die Pandemieerfahrung hat ihren Teil dazu beigetragen, dass die Quote der Vollzeit-Mütter wieder steigt und Mütter ihre Arbeitszeiten weiter reduzieren (laut Böckler-Stiftung jede 5. Mutter). Durch fehlendes Personal an Schulen und Kitas wird sich dieser Trend fortsetzen, und erst Recht durch die mangelnde Wertschätzung von Betreuungs- und Bildungsarbeit. Bezahlen werden Mütter später, wenn sie ihre Rentenbescheide erhalten. Ungerechter geht es nicht.

Veröffentlicht von stadtlandfrau

Dr. Inga Haese, Soziologin, Gärtnerin, Leserin, Mutter, Feministin, Kirchenaktivistin. Lebt in Berlin und bei Storkow in Brandenburg.

3 Kommentare zu „Suspendierung des Alltags. Was es für Familien bedeutet, wenn Bildung und Betreuung keine Garantien, sondern Lotteriespiel sind

  1. Streik ist ein legitimes Mittel, dem Notstand abzuhelfen. Ich, als alleinerziehender Vater eines schulpflichtigen Kindes, unterstütze dies. Damit helfe ich auch meinem Kinde. Wir kommen alle nicht um die grundsätzliche Beantwortung einer Frage herum: wie kann diese Gesellschaft so reformiert werden, dass sie sich nicht komplett auflöst? Derartiges hätte auch zur Folge, dass keiner Rentenzahlungen erhielte, weder Mütter noch Väter oder Kinderlose. Derzeit sterben viele Eltern um die 50 (Jahre)herum am Herzinfarkten, Schlaganfällen. Krebs. Was sind Ursachen? Welche konkreten Zahlen gibt es dazu? Unser Alltag wandelt sich unaufhaltsam. Wer sich traut, seine Interessen im Interesse aller zu vertreten, verdient die Unterstützung aller, meinen Respekt auf jeden Fall. Es hilft, Antworten zu finden.

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    1. Ja, Streik ist legitim, um auf die Fehlsteuerungen hinzuweisen. Meistens sind im Bildungssektor selbst Eltern (…und wieder überwiegend Frauen..) betroffen. Leider hilft Streiken bei Personalnotstand auch nicht weiter. Ohne bessere Arbeitsbedingungen entscheiden sich immer weniger Menschen für diesen Sektor…

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