Als Kunst noch politisch war: Eine liebevolle Erinnerung an Christoph Schlingensief zum 60. im Kino

Als ich lese, dass Christoph Schlingensief in diesen Tagen 60 Jahre alt geworden wäre, kommt mir das zunächst absurd vor. Denn wer, wenn nicht Schlingensief, war ein nie erwachsen gewordenes, großes Kind, das niemals nicht älter werden würde. Und nie, nie sterben würde. Dann kam der Krebs, sein Tod vor 10 Jahren. Unfassbar traurig, dass er viel zu früh starb. Aber unfassbar schön ist die filmische Erinnerung an Schlingensiefs Wirken „In das Schweigen hineinschreien“ geworden, die noch im Kino läuft. Und da gehört sie auch hin, denn in den gesamten 125 Minuten ist der Film über Christoph Schlingensief großartig, mitreißend und voller schöner Erinnerungen und Bilder an diesen einzigartigen Künstler aus der Sicht seiner Film-Editorin Bettina Böhler.

Autodidakt, Genie und zur richtigen Zeit am richtigen Ort

Seine politische Aktion zur Bundestagswahl 1998 erinnere ich dunkel: Chance 2000, die Geburtsstunde satirischer Parteien – heute Bestandteil aller Parlamente, damals pure Freude an der Dekonstruktion von Inszeniertem, es war die Blütezeit der poststrukturalistischen Theorie im postdramatischen Theater. Die Bilder von Schlingensiefs Bad mit Arbeitslosen im Wolfgangsee gingen damals durch die Nachrichten. Heute verstehe ich die Aktion nicht mehr als Kritik an einer abgewirtschafteten Regierung, sondern als Parodie auf die Professionalität der Kampa. Überhaupt lässt einen der Film erst recht begreifen, wie großartig Schlingensief war, welche Genialität seiner Kunst innewohnte, wie intelligent die Kritik in die Wucht der Aktion eingeschrieben war. Dieser Mann hat einfach gemacht was er machen wollte, hat ganz ohne Filmhochschule virtuos seinen Ideenreichtum orchestriert. Er war Autodidakt, Genie und zur richtigen Zeit am richtigen Ort, nämlich in den Nachwendejahren in Berlin. Schlingensief, so legt es der Film nahe, folgte lediglich seinem inneren Kompass, der an seiner Neugier auf das Fremde, auf den Menschen und auf das Sein ausgerichtet war.

Groß geworden mit Schlingensief

Meine Generation ist mit Schlingensief groß geworden. Groß im Sinne einer kulturellen Erziehung, und groß auch im Sinne von Toleranz, Neugier, Offenheit, Witz, Sich-überwältigen-lassen an der Volksbühne; dem Spaß an der Verunsicherung durch Tabubrüche und dem Wunsch, allem klein- und spießbürgerlichen Ernst der Kohljahre den Garaus zu machen, was zwischen 1996 und 2004 noch bitter nötig war. Ich durfte Schlingensiefs Atta-Kunst zu Beginn der 00er Jahren genießen; als Studis saßen wir in der ersten Reihe, billige Karten für die besten Plätze. Körperliche Einbezogenheit wie Nasswerden und Besudelung waren im Preis inbegriffen. Mit Irm Herrmann, der wienerischen Anti-Mutter als Mutterfigur, war die Kunst ausgebrochen. Schlingensief wurde damals stets Enfant terrible genannt, er selbst nannte sich Attaist. In jenen Jahren war die Gesellschaft anders als heute noch nicht routiniert im Umgang mit Tabubrüchen und Provokationen, da war Schlingensief an der Volksbühne gut aufgehoben. (Als die Volksbühne vor drei Jahren kolossal zu Grabe getragen wurde und Dercon dann aus dem Haus geworfen, da spürte man die Sehnsucht nach dieser Zeit geradezu physisch.) Mehrmals wurde Schlingensief während seiner Aktionen verhaftet und abgeführt. Er personifizierte die Kunst als Provokation, als diese noch politisch war – das erste Zentrum für politische Schönheit.

Zärtlich wird das ambivalente familiäre Verhältnis gezeigt

Der Film macht aber auch die Überforderung und Sprachlosigkeit der Eltern mit ihrem genialen Sohn deutlich, der überall aneckte, nie rastete. „Mach die Kamera aus“, das war ihre spätere Reaktion auf den filmwütigen Sohn. Der hatte als Kind schon alle anderen hinter sich versammelt, um seine ersten Filme zu drehen. Zärtlich zeigt Böhler dieses ambivalente familiäre Verhältnis: Ratlose, kleinbürgerliche Eltern, die aber immer zu ihrem Sohn stehen, obwohl sie den Hass und die Häme der Nachbarn ertragen müssen, Hassbriefe erhalten. Dabei betont die Dokumentation den prophetischen Charakter von Schlingensiefs Themen, die er der Gesellschaft vorhielt: Die Verachtung behinderter Menschen, der latente Antisemitismus, der offene Rassismus und rechte Gewalt waren Zündungskörper für die Kunst des Katholiken Schlingensief. Seine Performance mit Geflüchteten für die Aktion „Liebt Österreich“ ließ die Wiener ihr Nazitum selber darstellen, danach aber hielt er uns Deutschen den Spiegel vor. Heute wissen wir, wie akut es dessen bedurfte. An Menschenfeindlichkeit arbeitete er sich sein Leben lang ab, auch deshalb kommen viele Rezensenten des Böhler-Films zu dem Schluss, dass einer wie er heute schmerzlich fehle.

Mit dem Impfpass durchs Kriegsgebiet

Großartig, wie Christoph Schlingensief die ihm eigene Naivität als künstlerisches Mittel einsetzt: Mit seinem Impfpass passierte er Ende der 1990er Jahre die Grenzen der Kriegsparteien im zerfallenen Jugoslawien – „da ist ja das Logo der UNO drauf“. Zu einfach, um wahr zu sein, aber probat, um den Irrsinn des Krieges und den nationalistischen Wahn auf den Punkt zu bringen. „Ich bin 6 Kinder“, diesen Satz sagt Christoph Schlingensief mehrmals in den Szenen des Films. Er war sechs Kinder, weil er ein spätes Einzelkind blieb. Und diese Botschaft verkörpert er mit Vehemenz, sie bleibt Chiffre für die übermenschliche Energie, die ihn ausmachte, für die unzähligen Ideen in seinem Kopf, für die zwischen Wahnsinn und Genialität changierenden Bühnenbilder und -installationen, Filme, Performances, Kunstaktionen: Nahezu unmöglich, dass nur eine Person all dies vollbracht hat. Und trotz all seiner filmischen Blasphemie blieb Schlingensief seinem Glauben treu, bis zuletzt kämpfte er mit den Mitteln der Kunst dafür, dass wir die anderen sehen; dass wir das Leid und Elend von Geflüchteten nicht ausblenden, dass wir die Schöpfung ernst nehmen, das Leben lieben. Maria, Jesus und Gott, sie bildeten bis zu seinem Tod Schlingensiefs Trinität.

Der Dokumentarfilm bringt all diese Bilder wieder ans Licht, er ist eine Reise zurück in die späten 80er, die 90er und 00er Jahre, zurück ins Ruhrgebiet, in die Bonner Republik und die frühe Berliner Republik; eine Hommage an einen radikalen Künstler, dessen Megaphon der Welt seit 10 Jahren fehlt, dessen von christlichen Werten geprägter Sinn für die Nächstenliebe seinen erfrischend naiven Blick auf die Welt ausmachte: Christoph Maria Schlingensief, das war sein Name. Und der war hochpolitisch.

Veröffentlicht von stadtlandfrau

Dr. Inga Haese, Soziologin, Gärtnerin, Leserin, Mutter, Feministin, Kirchenaktivistin. Lebt in Berlin und bei Storkow in Brandenburg.

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