Stadt in Zeiten von Corona

Wir erleben gerade, wie städtisches Leben zum Erliegen kommt, obwohl kein Krieg, keine Vertreibung, keine Wirtschaftskrise die Menschen aus der Stadt gedrängt haben. Mit dem Corona-Virus erleben wir ein städtisches Shutdown von Innen heraus, ein herbeigeführter, planvoller Herzstillstand eines voll funktionsfähigen städtischen Körpers.

Das Urbane lebt von den möglichen Begegnungen einander fremder Menschen, sei es mit der von Georg Simmel beschriebenen Blasiertheit und der Reserviertheit der Großstädter, oder in der Vielfalt eines Mosaiks fremder Welten, das die Chicagoer Schule einst beschwor. Wie auch immer das Urbane charakterisiert wird, ohne das Aufeinandertreffen von vielerlei unterschiedlichen Menschen existiert keine Urbanität. Oder doch? Was passiert mit der Stadt in Zeiten von Corona?

Orte spielen keine Rolle mehr

Das öffentliche Leben wird in den nächsten Wochen still stehen. Clubs, Cafés, Theater, Schulen und Bibliotheken in Berlin werden schließen. Ein einmaliger, nie dagewesener Zustand, noch nicht einmal zu Wendezeiten gab es einen solchen Einschnitt. Der private Raum wird die Öffentlichkeit ersetzen: Journalistinnen und Journalisten, Politikerinnen und Politiker, alle Arten von Medienschaffende und andere Arbeitnehmer:innen agieren von zu Hause aus. Orte spielen keine Rolle mehr: der Lehrer kann seine Schulklasse trotz Schulschließung per Computer erreichen, genauso wie die Chefin ihr Team. Die Digitalisierung ermöglicht die Suspendierung der räumlichen Kategorie aus unserem Leben, aber gleichzeitig wird diese räumliche Komponente so bedeutsam wie nie zuvor in der Frage, wie sich das Corona-Virus ausbreitet.

Heute haben sich die Orte des Elends aus den Städten an die Peripherie Europas verlagert

Die Stadt ist räumlich betrachtet tatsächlich die ideale Brutstätte von Epidemien, und das ist sie schon immer gewesen. Die Geschichte der Stadtforschung, großartig nacherzählt von Rolf Lindner, zeigt die Spuren von Cholera-Epidemien und den Kampf um kontrollierende Hygienemaßnahmen als Geburtsstunde der Stadtforschung. Damals, zu Beginn der Industrialisierung und des explosionsartigen Stadtwachstums, waren die Armen- und Arbeiterquartiere von London und Paris berüchtigt. Friedrich Engels schrieb im 19. Jahrhundert beeindruckende und schauderhafte Reportagen über das Elend im verslumten London. Alles, was uns heute in Sicherheit wiegt, gab es nicht: Genügend Krankenhäuser, Krankenversicherungen, Hygieneregeln und fließendes (Ab-)Wasser in den Wohnungen. Heute haben sich die Orte des Elends aus den Städten an die Peripherie Europas verlagert, sie heißen Lesbos und Moria und sind die wahrhaft bedrohten Räume, wenn das Virus zuschlägt. Die Vulnerabilität dieser peripheren und provisorischen Städte ist beschämend und ihre Verdrängung aus dem öffentlichen Diskurs genauso.

Die Digitalisierung ermöglicht das Aufrechterhalten einer Scheinnormalität

Was in den urbanen Zentren hingegen entscheidende Sicherheit verschafft, ist die Digitalisierung. Durch sie sind Menschen den früheren Epidemie-Zuständen weit überlegen: Die Nachrichten erreichen heute nahezu jeden von uns sekündlich bis stündlich, und vielerlei Arbeit ist vom Home-Office aus zu erledigen. Kinder und Studierende erhalten Online-Tutorials, Videokonferenzen erleichtern Teamabsprachen und ersetzen ganze Meetings – welch Ironie, dass so manch konservativ handelnder Verband erst jetzt einsehen wird, dass eine Skypekonferenz den Inlandsflug ersetzen kann. Denn in Arbeitsfragen sind oft gar keine dreidimensionalen Treffen nötig, um Inhaltliches zu regeln. Die Digitalisierung ermöglicht das Aufrechterhalten einer Scheinnormalität. In Lebensfragen ist das etwas anderes: Hier geht es um Berührungen, um das Berührt-Werden. Ein Leben ohne Berührungen, das ist wie ein Wald ohne Bäume. Berührung ist lebensnotwendig, und der Austausch, die Begegnungen zwischen Menschen sind schon immer der Motor für jegliche Art des Fortschritts gewesen.

Corona zeigt uns deutlich, was das Urbane ausmacht, weil es abwesend sein wird

Insofern zeigt uns Corona in aller Deutlichkeit, was das Urbane ausmacht. Das Urbane ist das, was in den kommenden Wochen abwesend sein wird: Der öffentliche Raum für spontane Begegnungen und Austausch, das Zusammenkommen zur Unterhaltung, zum Informationsaustausch, zum Tanzen, zur Kinderbetreuung, zur Beratung, zum Beten, zum Lernen, zur Bewegung, zum Kulturkonsum, kurz: zum gemeinsamen Erlebnis mit allen Sinnen. Die digitale Begegnung ist kein adäquater Ersatz und wird es nie sein, denn sie hält nur zwei Facetten der Begegnung für uns parat – das ist die verbale, und zwar die eindimensionale, verbale Begegnung, und die zweite Facette kann das Visuelle sein. Interaktive Begegnungen im Netz können verbal und visuell sein, aber sie sind immer darauf begrenzt. Selbst wenn eine Cyberbrille im Spiel ist, bleiben die restlichen Sinne weitgehend unberührt, der Kasten des Geschehens bleibt bei aller Illusion des Berührtseins und der Involviertheit die Cyberbrille. Die Rede von „Sinnlosigkeit“ bekommt so seine ursprüngliche Bedeutung zurück.

Urbanität braucht den ganzen Menschen

Das urbane Moment der Vielfalt, die Möglichkeit des zufälligen Aufeinandertreffens von unterschiedlichsten Individuen, ist in digitalen Öffentlichkeiten nicht vorgesehen. Urbanität bedeutet nicht nur Vielfalt, sondern auch körperliches Aufeinandertreffen. Stadt kann also nie nur digital oder virtuell sein, Urbanität braucht den ganzen Menschen oder bildlich gesprochen den ganzen Leib.

Was heißt das nun für die Stadt? Ihre sinnlichen Vorzüge werden nunmehr virtuell und damit verkürzt erlebt (etwa die Übertragung eines Konzertes aus der Elbphilharmonie per Livestream oder die Einrichtung einer digitalen Concert Hall der Philharmoniker), die sinnlichen Nachteile (Autoverkehr, Lärm und Luftverschmutzung) werden abnehmen. Aber die Stadt als Lebens- und Erfahrungsraum wird vorübergehend stillgelegt. Wenn man so will, lähmt das Virus die Stadt, wenn die Stadt das Virus lähmen will.

Praktiken des nachbarschaftlichen Miteinanders ersetzen im städtischen Ausnahmezustand die urbane Anonymität

Andererseits wächst eine neue Art nachbarschaftlicher Solidarität. Die Jüngeren erledigen Einkäufe für Ältere, klopfen an und fragen, ob sie helfen können. Die Anonymität der Großstadt weicht einer nachbarschaftlichen Praxis kleinräumiger Hilfe. Der vielbeschäftigte Vater von nebenan ruft an und fragt, ob die Kinder in den nächsten Tagen miteinander spielen können. Die Mutter von oben organisiert eine Kinderbetreuung für die erste schulfreie Woche. Es sind diese Praktiken des Miteinanders, die das suspendierte Urbane auffangen und zeigen, wie Stadt in Zeiten von Corona funktionieren kann.

Veröffentlicht von stadtlandfrau

Dr. Inga Haese, Soziologin, Gärtnerin, Leserin, Mutter, Feministin, Kirchenaktivistin. Lebt in Berlin und bei Storkow in Brandenburg.

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