Die Unerhörten. Das klammheimliche Leid der Kinder

Still ist es geworden um die Familien und die Schulen. Je lauter das Echo auf Lockerungen in Sachen Außengastronomie und Fitnessstudios, desto eher fallen sie wieder hinten runter in der medialen Wahrnehmung. Gestern erreichte mich ein empörtes Schreiben einer Mutter aus der Grundschule meiner Kinder: Es könne doch nicht wahr sein, dass der Senat still und leise die Fortführung von Wechselunterricht und Notbetreuung beschließt! Ich hörte aus ihrer Mail, dass sie am Ende ihrer Kräfte angelangt ist, die Verzweiflung war laut. Ja, fast könnte man meinen, Kindern und Familien ginge es wieder ganz gut, jetzt, wo die Außengastronomie doch am Freitag öffnen darf. Aber es gibt Zahlen über den Zustand der Kinderwelt im Corona-Modus. Es ist zu lesen, dass die Zahl der Einweisungen in psychiatrische Kliniken bei Kindern und Jugendlichen im Lockdown gestiegen ist, in Berlin hat sie sich nahezu verdoppelt. Es heißt, die psychischen Belastungen, unter denen Kinder litten, seien hoch. Und man hört das leise mediale Hintergrundgeräusch, die langfristigen Folgen des Corona-Lockdowns für Kinder und Jugendliche seien unabsehbar. Alles sehr abstrakt. Was das für Folgen sein könnten und welches Leid sie konkret verursachen, wird kaum öffentlich gemacht – und wenn, dann hübsch saubergespült.

Die Wut wächst

Ich beobachte in meiner eigenen Familie mit großer Sorge, wie sich die Jüngste in ein anderes Kind verwandelt: Wutanfälle begleiten seit Februar unsere Familie – machtlos fragen wir uns, ob das sensible Kind ohne Corona in ähnliche Situationen geraten wäre? Agiert sie damit nur unsere eigene wachsende Wut aus? Natürlich, sämtliche Maßnahmen habe ich mitgetragen, Kontaktbeschränkungen eingehalten, wir haben uns solidarisch gezeigt und die Notwendigkeit von Corona-Maßnahmen stets verteidigt, denn sie retten Leben. Doch wenn Kinder mit ihrer seelischen Gesundheit bezahlen müssen für etwas, das Erwachsene alternativlos beschlossen haben, dann müssen alle hinschauen dürfen, fragen, zuhören. Schade, dass die seltsame Schauspieler-Aktion #allesdichtmachen auch wieder die Aufmerksamkeit von ihnen weggelenkt hat: Von den Schwächsten, den Kleinsten, den Schutzbefohlenen und wie sie unter den Schließungen und Beschränkungen leiden, die sie mit kurzer Unterbrechung seit nunmehr 14 (!) Monaten zu ertragen haben.

Es ist das Zusammenwirken aller Maßnahmen, die Kinder belasten

Es ist nicht die eine einzelne Maßnahme, die Kinder und Familien belastet. Es ist das Zusammenwirken aller Maßnahmen, die uns in Not bringt: Kontaktsperren, Einschränkung des Schulbetriebs, der Verlust von Hobbies, der Verlust von allen nachmittäglichen, entwicklungsfördernden Aktivitäten – durch die Schließung von Musikschulen und Sportstätten. Man kann das abtun und behaupten, Sport und Musik seien Luxus. So wie manche Politiker:innen behaupten, kulturelle Teilhabe sei Luxus und bei Arbeitslosigkeit reiche ein Betrag von 15 Euro pro Monat für Vereins- und Musikschulbeiträge eines Kindes (er reicht noch nicht mal für Fußballschuhe). Man kann behaupten, die Ausbildung von Kreativität und die Förderung der Beweglichkeit eines Kindes sei purer Luxus in einer Gesellschaft, in der es um anderes geht, im Moment nämlich um Lebenretten und das Aufrechterhalten einer Rumpfbildung, auf dessen Aufrechterhaltung die Schulen stolz sein können. Aber nur, wer die Freude an der Bewegung durch regelmäßige sportliche Betätigung, wer die Lust am Musizieren durch das Miteinander gelernt hat, der weiß, wozu all das überhaupt nützlich ist. Und ohne Spiel- und Entfaltungsmöglichkeiten verkümmern Kinder wie Samenkörner ohne Licht und Wasser. Kinder und Jugendliche sind depriviert wie nie zuvor, und das ist unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion, der Einkommenssituation von Eltern. Auf traurige Weise hat das Virus alle gleich gemacht: Überhaupt keine Teilhabemöglichkeit für niemand.

Nach Monaten gab es endlich eine Sendung von „hart aber fair“ allein über die Lage von Familien

Die Tragik ist: Im Moment lernen die Kinder all das Schöne überhaupt nicht und entwickeln auffallende Störungen, in meinem Umfeld klagt fast jede Familie über psychische oder motorische Entwicklungshindernisse. Als es vor zwei Wochen eine „hart aber fair“-Talkshow gab, die sich ausschließlich den Familien widmete, zeigte sich eine auffallende Realtitätsferne bei einigen Diskutant*innen. Die Sendung kreiste mehr um die Angst, dass Kinder ihre Aufstiegschancen durch Bildung verpassen könnten, als um die Kinder selbst, ihre Psyche und ihre Gesundheit – lediglich einmal konnte die anwesende Ärztin darauf hinweisen, wie schwindelerregend die Gewichtszunahmen bei Kindern und Jugendlichen seit Beginn des Lockdowns sind und welch schwerwiegende gesundheitliche Auswirkungen sie sieht.

Die geladenen Eltern haben keine Blessuren davon getragen

Die ARD-Moderatorin eines Celebrity-Magazins, hier als Betroffene, versuchte gar nicht erst, ernsthaft den „ich-kann-nicht-mehr“-Modus zu erreichen, sondern beschönigte und lächelte darüber hinweg, wie es dem eigenen Sohn wirklich geht. Sieht dieser Sohn seine Mutter eigentlich regelmäßig unter der Woche, oder hat sie Personal eingespannt, was macht der Vater – das sind so die ersten Fragen, die ich mir als normalsterbliche, vereinbarkeitsunfähige Mutter stelle, die weder im Job noch in der Erziehung gerade das Gefühl hat, etwas zufriedenstellend hinzubekommen: Dort zu wenig Zeit, da Konflikte, zu wenig Platz, insgesamt Erschöpfung auf allen Ebenen. Ja, es sei wirklich schwierig, höre ich Frau Höppner sagen, denn Eltern sind nicht die richtigen Lehrer. Das Kind hat offenbar keine Blessur davongetragen. Und ich frage mich: Warum sitzt da nicht eine Frau, die ihrer Überforderung Luft machen darf, die eine Geschichte hat zu den Zahlen, die uns die Ärztin präsentiert: Wo vor Corona 50 Kinder in ihre sozialpädiatrische Sprechstunde kamen, sind es heute 200 (!) – das ist eine Vervierfachung. Würde es in der Wirtschaft um solch drastische Zahlen gehen: Alle wüssten davon, Hilfspakete und Zusatzangebote wären längst geschnürt und unterwegs. Und das Problem der Moderatorin ist verpasster Lernstoff. (War Frau Karliczek eigentlich in der Sendung?)

Warum nur fällt es allen so schwer, die Not der Kinder wahrzunehmen und zu beschreiben?

Warum nur fällt es offenbar so schwer, die Not der Kinder wahrzunehmen und zu beschreiben? Wollen wir als Gesellschaft lieber wegschauen? Tun alle besonders aufgeräumt, um ihr Geplagtsein nicht zeigen zu müssen? Oder habe nur ich so ein sensibles Kind, das Schrei- und Wutanfälle bekommt und tote Kinder mit Coronaviren malt? Sicher nicht! Nur all die Eltern, die mein Schicksal teilen, schaffen es nicht raus in die Talkshows oder rein in die Kampagnen, nö, wir können einfach nicht mehr. Wir funktionieren nur noch. Batterielevel: low. Familien haben keine Lobby, und Kinder schon gar nicht. In den Medien kommen nicht die zu Wort, die mit ihrem Kind in der Notaufnahme stehen, weil das Kind nicht mehr spricht oder ständig weint oder wie auch immer sich die Ängste und Sorgen bei ihm auswirken, jedenfalls gibt es gerade verdammt viele Kinder, deren Entwicklung fehlgeleitet ist, und diesen Eltern und Kindern will ich zuhören. Sie sind es, die gerade die lauteste Stimme brauchen. Und nicht die, die alles so toll schaffen und die wir auch noch mit Applaus belohnen, weil sie sich nicht beschweren. Und wenn ich das mache, dann denke ich: Senat, es reicht! Außengastronomie auf, okay, aber vergiss die Schulen nicht!

Veröffentlicht von stadtlandfrau

Dr. Inga Haese, Soziologin, Gärtnerin, Leserin, Mutter, Feministin, Kirchenaktivistin. Lebt in Berlin und bei Storkow in Brandenburg.

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