Alte und neue urbane Workspace: Kreuzberg, Corona-Schnelltests und Co-Working

Letzte Woche unternahm ich einen Spaziergang durch Körte- und Grimmstraße, weil die U-Bahn am Südstern überfüllt war. Das Lädensterben brach mir das Herz. Vor einem italienischen Bistro, in dem ich vor Pandemiezeiten öfter geluncht hatte, standen Tische; die italienischen Spezialitäten aus dem Geschäft sorgfältig aufgereiht. Vater und Sohn versuchen nun, mit Cantuccini, Espressi und Softdrinks über die Runden zu kommen. Das Licht aus dem Ladeninnern warf sich auf die Verzweiflung, die ich in ihren Gesichtern las, trotz all der Tapferkeit, die diese Familie mobilisiert hat. Ich kaufte Kleinigkeiten, ein schwacher Trost.

Auf der Dresdner Straße kauert ein einsamer Lieferando-Dienstleister in der Kälte

Wieder andere versuchen es mit einem Waffelstand vor ihrem Café. Unstet besetzt (wegen der Kälte) bringt er wenig Einnahmen, aber der Erfindungsreichtum zaubert ein Lächeln auf die Gesichter dieser unfreiwilligen Überlebenskünstlerinnen und -künstler. Ich wünsche ihnen von Herzen Glück. Das Kremanski unterm Kotti bleibt hingegen geschlossen, für immer. In den Schaufenstern kleben jetzt braune Papierbahnen. Auf der Dresdner Straße kauert ein einsamer Lieferando-Dienstleister in der Kälte, wartend vor dem gefühlt 48. Bowl-Schnellrestaurant.

Zuletzt eröffneten in dem kurzen Straßenabschnitt hinter dem Möbel Olfe drei bis vier fernöstliche Restaurants, alle wollten aufspringen auf den Co-Working-Lunchbreak-Trend, der diese Gegend um die Mittagszeit wie eine große Freilichtkantine aussehen lässt – üblicherweise. Jetzt: dunkle Fenster, einsame Fahrradkuriere, handgeschriebene Zettel an den Türen: Bestellungen am 24.12. und am 31.12. möglich. Ob die Betreiber schon aufgegeben haben?

Hinter der Schaufensterfassade werden in Coworkingmanier Corona-Schnelltests durchgeführt

Das Einbiegen in die Prinzessinnenstraße eröffnet neue Perspektiven, nicht nur das Betahaus, einst Pionierin der Co-Workingspaces am Moritzplatz, musste Neubauplänen weichen. Auch die Zielrichtung des Co-Workens hat sich den Pandemiebedingungen unterworfen. „Worksatreat“ steht in pinkfarbener Leuchtschrift an einem schicken Neubau mit atriumartigem Innenhof. Perfektes Arbeiten. Hinter der Schaufensterfassade werden in Coworkingmanier Corona-Schnelltests durchgeführt. Die Assoziation mit CoWorking ist sofort da, weil erstens junge Menschen unterschiedlichster Herkünfte hin- und herlaufen und Arbeitsmaterial (Test-Kits und Ergebnisse) austauschen, und zweitens, weil die KDP BioMed GmbH als StartUp gelistet wird. Eigentlich verkörpert das Medizin-Tech-StartUp digitale Gesundheitsdienstleistungen, aber hier ist eine ganz neue Schnittstelle zwischen Privatwirtschaft und öffentlichem Seuchenschutz aufgepoppt (negatives oder positives Corona-Testergebnis). Die Pandemie verursacht in Kreuzberg eine Neuorientierung der Idee von PopUp-Store und CoWorking-Space, die sich wunderbar an der Architektur der Teststelle „Am Moritzplatz“ ablesen lässt.

Urbane Lifestyle-Wirkung beim Schnelltest

Schon der Eingang ist ein Zitat der Nicht-Orte (Marc Augé) Flughafen und Arbeitsamt, nicht nur wegen der zahlreichen mit Gurten versehenen Absperrungen, sondern auch wegen des schlichten, einzig auf den Schalter zugeschnittenen Empfangsbereiches. Funktional, digital, serviceorientiert. Wer einen Online-Terminslot gebucht hat, der muss hier nicht lange warten, sondern kann nach der Anmeldung gleich in die mit Ampeln versehenen Kabinen verschwinden, die im Atrium aufgebaut wurden und entweder rotes oder grünes Licht zeigen. Die Schnelltests kosten hier 49,50 Euro – das ist unvergleichlich viel Geld gemessen am Schnelltestpreis im KitKatClub um die Ecke (25 €). Aber die Miete muss schließlich wieder reinkommen, laut BerlinStartupOffices kostet der perfekte Space immerhin 16000 € (!) Miete pro Monat. Dafür ist das Ambiente im Preis inbegriffen: Elektronische Musik, eine pinkfarbene Club-Beleuchtung und ein ästhetisch an körperliche Arbeit verweisendes Metallgestell, an dem sich Dschungelpflanzen emporranken, geben dem hohen Atrium die gewünschte urbane Lifestyle-Wirkung.

Nein, Ärztin sei sie nicht, bedauert die Testerin

Wären da nicht die grünen Schutzanzüge der Mitarbeitenden, die Gesichtsschirme und Gesichtsmasken. Und wären da nicht die schlecht geschulten Mitarbeiter:innen. In der Kabine angekommen, rammt einem das Personal ein Abstrichstäbchen in die Nase – so weit, so gewöhnlich. Doch das perfekt digital über QR-Code vermittelte Ergebnis – immerhin nach 15 Minuten smart abrufbereit – informiert an diesem Tag besonders viele Testpersonen darüber, dass ein unklares Ergebnis vorliegt und ein banal-analoger Rückruf am Desktop des Centers geboten ist. Also wieder zurück an den Schalter, das Test-Prozedere beginnt von vorn. Nein, Ärztin sei sie nicht, bedauert die Testerin. Es gab aber eine Schulung. Der hohe Preis des Schnelltests, so scheint es, sagt wenig über die Qualität der Schulung vom medizinischen Personal aus, die jede:r Tester:in durchlaufen haben muss. Zumindest in dieser Hinsicht dürfte das Arbeiten im new urban Workspace nicht perfekt sein.

Was sich bei der Kiezwanderung zeigt: Die Pandemie eröffnet neue Perspektiven des Arbeitens für die einen, schließt frühere Arbeitsgarantien für die anderen ganz aus, aber zwischen all den Menschen schwebt die verbindende Hoffnung, dass die Corona-Situation endlich von einer neuen Normalität abgelöst werden möge.

Veröffentlicht von stadtlandfrau

Dr. Inga Haese, Freie Autorin, Sozialforscherin, Dozentin. Mutter von 2 Kindern. Lebt in Berlin und bei Storkow in Brandenburg.

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