Am heutigen Sonntag schreibt Sabine Rennefanz im Tagesspiegel über die Notwendigkeit des zivilen Ungehorsams von Eltern. Und warum Eltern eben das nicht auch noch leisten könnten, es war schon oft genug Thema dieses Blogs, es kann aber gar nicht oft genug wiederholt werden: Neben den alltäglichen Anforderungen, die an Eltern von Schulkindern gestellt werden (welche allein in Zeiten von Lehrer:innenmangel, Coronamaßnahmenkatalogen und den Herausforderungen zu digitaler Fürsorge als tagesfüllende und nervenaufreibende Aufgabe genügen würden), sollen sie arbeiten gehen, sich weiterbilden, körperlich und mental gesund bleiben, frisches Essen kochen, den Kindern darüber hinaus Hobbies ermöglichen, den Haushalt nicht aus dem Blick verlieren, die Familie zusammenhalten und möglichst sozialversicherungspflichtig beschäftigt sein, damit die Renten nicht allzu sehr sinken müssen.
Was ist überhaupt Generationengerechtigkeit?
Wer selbst pflegebedürftige Eltern oder Großeltern hat, der weiß, wie einen dieser Spagat zerreißen kann: es ist eben nicht möglich, gleichzeitig die Sozial- und Pflegekassen zu füllen UND ausreichend Fürsorge für die Angehörigen zu übernehmen, wenn noch Kinder im Haushalt leben, UND noch ehrenamtlich tätig zu sein. Superkräfte bleiben, was sie sind: Ausnahmeerscheinungen. Und jetzt noch gegen kinderfeindliche Politik protestieren? Wir sind gefordert genug, das ist Sabine Rennefanz’ zurecht empörte Antwort. Was ist überhaupt Generationengerechtigkeit, mit der Frage lässt Rennefanz uns für den Restsonntag allein. Aber auch mit dem mulmigen Gefühl der Sprengkraft, die dieses Konstrukt birgt: In einer alternden Gesellschaft, in der „Generationengerechtigkeit“ offenbar immer mit einem erhobenen Zeigefinger zugunsten der Alten gelesen werden will und selten bis gar nicht zugunsten der Kleinen und Jungen. Oder wie ist zu erklären, dass es niemanden interessiert, wie schlecht die Schulen immer noch ausgestattet, wie marode die Gebäude trotz Konjunkturpaketen, wie himmelschreiend die hygienischen Zustände an vielen Schulen nach wie vor sind?
Politisch ist es Kinderfeindlichkeit
Wenn in Berlin niemand mehr das Ressort Bildung anrühren mag, dann spricht das Bände für den Grad an Kinderfeindlichkeit, den die Politik sich erlaubt. Es ist eine hausgemachte Misere, denn hätte der Senat an vielen möglichen Wendepunkten in den letzten Jahren anders gegengesteuert, säßen wir heute nicht als Hilfslehrer:innen zu Hause – oder schickten unsere Kinder auf Privatschulen. Das ist ein trauriges Bekenntnis, zu dem die Berliner Bildungsmisere geführt hat – als sozialdemokratisch eingestellte Bürgerin frage ich mich, wie es soweit kommen konnte.
Im Unistreik haben wir Büros besetzt
Ich ahne die Antwort, ich selbst bin Teil davon. Vor vielen Jahren habe ich dazu beigetragen, dass sich der Lobbyismus zugunsten von Universitäten und eines kostenlosen Studiums an den drei Unis in Berlin durchsetzt, beschwingt von einem lauten, kreativen, landesweiten Unistreik. Damals, 2003, haben wir Büros von Senator:innen besetzt und uns hinaustragen lassen, um uns Gehör für studentische Anliegen zu verschaffen. Bei einem Parteitag der PDS, die im rot-roten Bündnis das entscheidende Veto gegen die Berliner Studiengebühren einlegen konnte, durften wir vorsprechen. Ich erinnere mich an das erhebende Gefühl, als auf der Friedrichstraße Tausende demonstrierten und wir im Konferenzsaal des Maritim-Hotels Politik machen durften. Und es setzte sich das gebührenfreie Studium durch. Lehrer:innen wurden im Gegenzug nicht mehr verbeamtet. Die großen Sparjahre wurden eingeläutet, Wohnungsunternehmen privatisiert, Verwaltungen kleingespart. Während andere Bundesländer ebenfalls Studiengebühren aussetzten, aber Lehrer:innen auch wieder flächendeckend verbeamteten, blieb es in Berlin beim Sparkurs in der Schulbildung, eine Sparreform jagte die nächste.
Kollateralschaden des erfolgreichen Lobbyismus
Heute sehe ich unsere studentische Forderung nach Gebührenfreiheit in der höheren Bildung auch als einen Kampf um ein Privileg, der politisch instrumentalisiert wurde. Was uns vorgeworfen wurde, nämlich nicht solidarisch mit dem restlichen Bildungssektor zu handeln, galt in unseren Augen nicht; wir sahen einzig das drohende Studienkontenmodell á la Chile am Horizont, gegen das wir ankämpften. Doch wie empfindlich die Allgemeinbildungsstätten nach der politischen Entscheidung zugunsten des gebührenfreien Studiums getroffen wurden (übrigens heute das Aushängeschild, mit dem sich Berlin stolz schmückt), wird erst heute als schwerwiegender und nichtintendierter Kollateralschaden unseres erfolgreichen Lobbyismus erkennbar.
Wo ist der politische Wille, Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen?
Warum diese Ausschweifung? Nun, es ist an der Zeit, die Erfahrung von damals zugunsten von Kindern nutzbar zu machen. Kinder haben keine Lobby. Warum nicht wieder Büros besetzen? Nur diesmal nicht als Student:innen, sondern schlicht als besorgte, ja, sagen wir es ruhig: wütende Eltern? Unter all den berechtigten Forderungen – des professionellen Pflegesektors nach mehr Geld und Anerkennung, den Ausgaben für eine Verkehrswende (anderes Thema mit Aufregungspotenzial), mehr Klimaschutz, mehr Sozialhilfe – liegen irgendwo ganz unten die Forderungen nach einer angemessenen Bildung für Kinder und Jugendliche. Eine gute (!) Ausstattung von Schulen mit digitaler Infrastruktur, gut (!) ausgebildetem Personal und dem Willen, Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen: Dieser Wille ist politisch offenbar irgendwo hinter Begriffshülsen wie Generationengerechtigkeit, Klimaneutralität und Gebührenfreiheit abhanden gekommen. (Von der verplemperten Zeit in der Coronapolitik mal ganz abgesehen.) Was ist gerecht daran, die Ausgaben für verbeamtete Lehrer:innen einzusparen, wenn die gut ausgebildeten Lehrer:innen seit Jahren in Scharen das Bundesland verlassen? „Allesmangel“ nennt Ariane Bemmer den Zustand von allgemeinbildenden Berliner Schulen.
Privatschulen können genauso wenig die politisch gewollte Lösung eines rot-rot-grünen Senats sein wie ein neoliberales Studiengebührenkonzept. Der Ausruf von uns Eltern heute, wenn wir zivilen Ungehorsam ausüben, wird lauten: „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr unsren Kindern die Bildung klaut!“