Ein Spiegel der Gesellschaft #annespiegel

Auf allen Kanälen wird Anne Spiegels Rücktritt besprochen. Es stimmt, eine aus familiären Gründen zurücktretende Familienministerin, das erregt Aufsehen. Aber was ist dran an der feministischen Interpretation, die den Rücktritt von Anne Spiegel problematisiert?

Etwa konzentriert sich Margarete Stokowski auf das Menschenrecht, Urlaub zu nehmen und eine fragwürdig gewordene, patriarchale Präsenzkultur; Teresa Bücker twittert über gute Führung, und Patricia Hecht von der Taz fragt, ob für Spitzenpolitiker:innen während privater Krisen eine Auszeit nicht möglich sein müsse.

Aber von vorn. Das Fehlverhalten von Frau Spiegel lag im letzten Sommer während einer verheerenden Flutkatastrophe und war darin begründet, dass sie die Unwahrheit gesagt und ihre belastende familiäre Situation verschleiert hat (z.B. Tagesschau.de). Im Nachhinein denken viele, dass Frau Spiegel doch im Sommer 2021 ihre familiäre und persönliche Situation und auch ihre digitale Nicht-Präsenz hätte öffentlich machen sollen. Erinnern wir uns: Es gab eine Flutkatastrophe mit mehr als hundert Toten, es war eine Jahrhundertflut; der Klimawandel zeigte uns Menschen eindrücklich, was Extremwetterzustände für die Gesellschaft bedeuten. Man kann sich durchaus vorstellen, dass Anne Spiegel damals klug gehandelt hat, ihre persönliche Lage nicht ins öffentliche Licht zu rücken. Die Schmähungen wären verheerend gewesen. Sie hat sich stattdessen aber für Intransparenz und eine Lüge über die Teilnahme an einer Kabinettssitzung entschieden: das sind gute Gründe für politische Akteur:innen, Schaden vom Amt wenden zu wollen und zurückzutreten.

Es bleibt allerdings die Frage, wann wer aus welchen Gründen zurücktritt. Andreas Scheuer ist trotz Millionendesaster mit Rechtsstreitfolgekosten im Mautskandal nicht zurückgetreten. Ursula von der Leyen hat die Berateraffäre als Verteidigungsministerin ausgesessen. Franziska Giffey ist als Familienministerin zurückgetreten, weil sie ihren Doktortitel unrechtmäßig erworben hatte, wie vorher schon Annette Schavan und Theodor Guttenberg. Unlautere Methoden im Wettbewerb anzuwenden ist heftiger unmoralischer Tobak, Stichwort Plagiat. Seine eigene Überforderung zu performen hinterlässt hingegen einen Geschmack von Unprofessionalität. 

Und deshalb ist der Rücktritt von Anne Spiegel so tragisch.

Und deshalb ist der Rücktritt von Anne Spiegel so tragisch: Da sehen wir eine mit sich ringende Frau, die den Tränen nahe ist und die alles dafür getan hatte, gerade dieses Bild nicht zu erzeugen. Und warum wollte sie es nicht erzeugen? Weil es immer noch das Schlimmste zu sein scheint, als Frau Schwäche zu zeigen und den schwierigen Spagat zwischen Familie und Karriere im Licht der Öffentlichkeit zu benennen. Millionen an Steuergeldern zu versenken und sich vor Untersuchungen zu drücken ist ernsthaft schlimm, aber es schadet dem Eindruck von Professionalität offenbar weniger als eine persönliche Überlastung zuzugeben. 2012 schrieb Ann-Mary Slaughter in ihrem viel diskutierten Aufsatz „Why women still can‘t have it all“: „I believe that we can ‚have it all at the same time.‘ But not today, not with the way America’s economy and society are currently structured.“ Gleiches stimmt für die heutige BRD.

Ich denke für eine Sekunde, dass statt Anne Spiegel ein Robert Habeck oder ein Hubertus Heil das preisgegeben hätte, was Anne Spiegel durch ihre Performance preisgegeben hat. Vermutlich wären sie für ihre Offenheit gelobt worden. Als aufopferungsvolle Väter verantwortungsbewusst und im richtigen Moment für die Familie gehandelt zu haben. Statt dem Amt in einer krisenhaften Situation der Familie den Vorrang eingeräumt zu haben, das erfordere Mut, zeige wahre Stärke. Zumindest lese ich das im Geiste. Jedenfalls hätte es weniger hämische Nachrichten unter dem Twitter-Hashtag gegeben, die darauf abzielen, dass der Minister das Amt besser gar nicht erst hätte antreten sollen.

Wahre Gleichstellung bedeutet nicht, sich an männlich vorgelebte Führungspraxis anzupassen.

Was wir daran ablesen können, ist, dass es immer noch Doppelstandards für Mütter und Väter in Spitzenämtern gibt. Und diese Tatsache macht etwas mit einer als Mutter in Führungsposition, erst recht in einem Ministeramt. Frauen müssen immer noch doppelt für ihre Anerkennung kämpfen. Und dabei sollen sie verbergen, dass sie Carework zu leisten haben. Tun sie es umgekehrt nicht, wird auf sie als Rabenmutter herabgesehen. Eine alte feministische Erkenntnis. Im Grunde spiegelt der Weg zu Anne Spiegels Rücktritt gerade sehr genau, wo wir stehen, nämlich an einem Anfangspunkt: es ist der Beginn einer echten Gleichstellung, die nämlich dann da wäre, wenn Frauen in Führung und Regierungsverantwortung ganz selbstverständlich von ihrer Sorgeverantwortung sprechen könnten. Ohne Angst, dadurch ihren Job zu verlieren. Die feministische Interpretation von Anne Spiegels Rücktritt ist nämlich die, dass wahre Gleichstellung nicht bedeutet, sich an männlich vorgelebte Führungspraxis anzupassen, sondern die multiple und komplexe Lebensrealität von Frauen in solchen Ämtern repräsentieren zu können.

Die Twitter-Maschine läuft.

Veröffentlicht von stadtlandfrau

Dr. Inga Haese, Freie Autorin, Sozialforscherin, Dozentin. Mutter von 2 Kindern. Lebt in Berlin und bei Storkow in Brandenburg.

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