Seit Tagen legen Protestierende von Extinction Rebellion die Stadt lahm. Die bunten Aktionen rufen Erinnerungen an den Uni-Streik von 2004 wach, als die ganze Stadt mit einem kreativen Kampf gegen Studiengebühren bespielt wurde. Vom Spreebaden über das Abseilen vom Willy-Brandt-Haus bis hin zum Wegtragenlassen aus Senatorenbüros war damals alles geboten – wir waren hier, wir waren laut, weil man uns die Bildung klaut. Die Ideen und sicher auch einige Protagonisten von damals leben im friedlichen Blokadeprotest fort. Ob occupy oder Hambacher Forst, Seebrücke oder G8-Gipfel: Die Bewegung lebt, sie ist hier und sie ist laut.
Unvorbereitet und naiv setzte ich mich ins Auto
Es gab allerdings einen Moment am gestrigen Tag, an dem ich den Aktionismus von Extinction Rebellion zutiefst mißbilligt habe. Es war kurz nach der Entscheidung, mich von den Blockierern aus gesehen auf die falsche Seite zu begeben. Ich saß nämlich im Auto, mit dem ich meine Tochter weggebracht hatte, und wollte zurück nach Kreuzberg. In meinen Kiez. Unvorbereitet und naiv, muss ich zugeben, denn wie sonst hätte ich gestern das Auto nehmen können? Ich nehme innerstädtisch selten das Auto, ständig steht es herum und nimmt öffentlichen Raum zum Parken weg. Wer die Verkehrslage rund um Moritz- und Oranienplatz kennt, weiß, warum das Auto hier besser steht als fährt: In den letzten Jahren hat sich die Verkehrsdichte verdoppelt. Und trotzdem bestehe ich auf das individuelle Fahren, wenn es die Situation verlangt. Etwa, wenn meine kranken Kinder zum Kinderarzt müssen, wenn meine kniekranke Mutter zu Besuch kommt oder schwere Lasten bewegt werden. Dann ist es ungemein praktisch, sich nicht in den überfüllten Untergrund der Stadt begeben zu müssen, sondern ein Auto zu haben. Das Radio einzuschalten. Loszufahren. Sicher, es ist ein Privileg, denn nicht nur Benzin und Unterhalt, auch Reparatur und Wartung verschlingen Unmengen an Geld, das man bereit sein muss, für die ausgewählten Momente der Freiheit hinzublättern. Übrigens auch für das Privileg, sein privates Chaos im Auto zu hinterlassen, oder sogar: Schwimmzeug und warme Jacken immer parat zu haben. Dieser kleine, unvernünftige Luxus ist für mich unverzichtbar. Und obwohl ich mit der Klimabewegung sympathisiere, kann ich nicht anders. Denn es gibt auch Argumente, die für den Individualverkehr sprechen: Gerade für kranke und alte Menschen, die aus physischen oder psychischen Gründen nur schwer in U- und S-Bahn-Wägen hinein gelangen, ist die Radikalität der Verkehrswende-Aktivisten unbegreiflich. Meiner 89-jährigen Oma ist es kaum zuzumuten, auf Rad oder Tretroller zu ihren Arztterminen zu fahren.
Jannowitzbrücke und Oberbaumbrücke blockiert
Aber zurück zum Tag gestern. Nun hatte ich also das Auto gewählt, und so stand ich gestern um 17:00 Uhr in der Rudi-Dutschke-Straße Richtung Osten, eingeklemmt zwischen hundert anderen Autos, deren Fahrer entnervt die Hupen drückten und ab und zu unvermittelt ihr Fahrzeug wendeten und mit quietschenden Reifen in Gegenrichtung davonbrausten. Eine solche Lösung kam für mich nicht in Frage – ich musste nach Hause. Was sich als unmöglich herausstellte: Die Jannowitzbrücke und die Oberbaumbrücke wurden gerade blockiert, informierte mich das Radio, ganz Kreuzberg sei dicht. Ich schmunzelte und gratulierte innerlich der Bewegung, dass sie solch wichtige Orte besetzt hielt. Nach einer halben Stunde und 50 gekrochenen Metern weiter, kurz vor der Kreuzung Oranienstraße Ecke Lindenstraße, freute ich mich noch für den Erfolg der Blockierer, auch wenn ich Verständnis für die anderen gefangenen Autofahrer hatte, deren Nerven blank lagen. Vielleicht hatten sie einen dringenden Termin, und jetzt saßen sie hier fest, natürlich wächst bei ihnen die Wut auf herumsitzende Straßenblockierer und der Zorn entlädt sich wenigstens in Schimpftiraden auf Radfahrende.
1:0 für Extinction Rebellion, frohlockte die Klimaschützerin in mir
Der Verkehr in Richtung Moritzplatz war vollständig zum Erliegen gekommen, Busse mussten umkehren. Ich entschied kurzerhand, statt weiter im Chaos zu stehen, mein Auto in der Ritterstraße stehen zu lassen, um zu Fuß weiterzukommen. Eins zu null für Extinction Rebellion, frohlockte die Klimaschützerin in mir. Ich überquerte die hübschen Hinterhöfe der Wohnanlage Ritterstraße-Nord, ein wunderschönes Relikt aus einer experimentierfreudigen Stadtentwicklungsphase in den 1980er Jahren. Welch schöne Nebeneffekte so ein Spaziergang doch haben kann. Doch dann gelangte ich wieder an die vollgestopfte Oranienstraße, die Autos wie Wasser bei einer Überschwemmung in die Seitenstraßen drückte, allerdings in Zeitlupe. Überall brummten und qualmten die wartenden Blechkisten. Die Luft war grau und stickig, etwa wie in Santiago de Chile an einem versmogten Wintertag.
Mein Verständnis schmolz mit jedem Schritt, den ich in der abgasverseuchten Luft tat, dahin
Mein Verständnis für die Blockaden schmolz mit jedem Schritt, den ich in der abgasverseuchten Luft tat, dahin: Das also soll das Ergebnis der Aktion sein? Die Stadt wird noch mehr verpestet, niemand kann mehr atmen, meine Kinder kriegen Asthma. Weil gefühlte 10.000 qualmende und brummende Autos in sämtlichen Straßen von Kreuzberg mit laufenden Motoren herumstehen. Schon klar: Genau dieses Dilemma zu produzieren ist der Punkt der Aktion. Seht her, das richten eure stinkenden Blechkisten an! Zu dem Preis, dass noch viel mehr von dem giftigen Zeug verbrannt wird als sonst und die Umwelt schädigt. Aber warum blockieren diese Protestler ausgerechnet hier die Kreuzungen, schießt es meinem Kreuzberger Ich durch den Kopf. Können die nicht einmal nach Zehlendorf gehen? Oder Wilmersdorf? Nein, es muss immer Friedrichshain-Kreuzberg sein, grollt es in mir, als ich den Moritzplatz erreiche, an dem die Autofahrer*innen ihre Karren besser stehen lassen würden, statt weiter darauf zu warten, dass irgendwo ein Knoten platzt.
Können die nicht mal den Ku’damm lahm legen, denke ich genervt.
Ich steige in die U-Bahn und fahre nach Charlottenburg, dort bin ich mit meinem Mann im „est.“ verabredet (empfehlenswert: japanische und südamerikanische Fusionsküche!). Am Ku’damm. Können die nicht mal den Ku’damm lahmlegen, denke ich genervt. Bei den Wohlhabenden und Kosumierenden der Luxusmeile bringt’s doch viel mehr als im abgehängten Kreuzberg. Denn entgegen aller Mietspiegel wohnen hier natürlich noch die meisten Transferbezieher*innen und viel mehr arme Kinder als in den reichen Westbezirken, vom Migrationsanteil ganz zu schweigen. Aber nein, in Wilmersdorf und Charlottenburg will keiner demonstrieren, da gibt es auch nichts Bezahlbares zu essen und die WG ist so weit weg, man kennt das ja noch. Am 1. Mai habe ich früher jedes Jahr den Kopf über all die zerschlagenen Scheiben in Kreuzberg geschüttelt: Warum muss man ausgerechnet sein eigenes Quartier so leiden lassen? Wo die Menschen doch schon das ganze Jahr den Müll und Dreck ertragen müssen und es Monate dauert, bis die Scheiben der Bushaltestelle wieder eingesetzt werden. So ähnlich fühlt sich das mit der Verkehrsblockade an: Als Transitbezirk sind wir Kreuzberger*innen sowieso schon maximal belastet, und dann tut uns Extinction Rebellion das an. Soviel CO2 wie in den wenigen Stunden gestern hat der Bezirk vermutlich in zwei Monaten nicht geatmet. Nein, die Kreuzbergerin in mir glaubt keinesfalls an ein 1:0 für die Bewegung.
Eine tolle Party für den Klimaschutz vor dem Café Kranzler, mit Blick auf die Gedächtniskirche. Neugierig geselle ich mich dazu
Ich steige am Bahnhof Zoo aus dem Untergrund aus, Ausgang Hardenbergstraße, Ecke Joachimsthaler. Und ich traue meinen Augen kaum: Die Joachimsthaler Straße ist gesperrt! Ich gehe weiter, vorbei an urbanen Discountboutiquen wie Primark. Am Ende der Straße sehe ich sie: Extinction Rebellion blockieren den Ku’damm. Mir fällt ein Stein der Erleichterung vom Herzen. Ich hatte vorschnell gegrollt. Es werden große Seifenblasen in die Luft geschleudert, elektronische Musik lädt zum Tanzen ein. Eine tolle Party für den Klimaschutz vor dem Café Kranzler, mit Blick auf die Gedächtniskirche. Neugierig geselle ich mich dazu. So bequem sind sie gar nicht, die Blockierer*innen, denke ich besänftigt. Sie zeigen auch den Charlottenburger*innen, was die Freiheit des Fußgängers bedeuten kann. Na gut, ihr habt doch gewonnen, denkt die Kreuzbergerin in mir, zumindest für heute.



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